Der Luchs rottet die Rehe aus ...

Es ist, wie es ist: Wo immer der Luchs auftaucht, sehen die Jäger keine Rehe mehr. Erstaunlich, wie schnell die Rehe verlustig gehen – oft über Nacht! Gestern war die Welt noch in Ordnung, doch dann wurde ein Luchs gesehen (oder auch nicht), vielleicht wurde einer zum Verkehrsopfer, lief in eine Fotofalle oder einem bewaffneten Naturschützer in die Schrote, und schon fiel es manchen Jägern wie Schuppen von den Augen: Genau – man sieht ohnehin kaum noch Rehe!  

Wurde ein Luchs tatsächlich irgendwo oder auch nur eventuell gesehen, steigt die Zahl der Begegnungen und „Nachweise“ sprunghaft. Es ist wirklich so, da werden aus mittelgroßen Hunden ebenso totsichere Luchse wie aus kapitalen, halbwegs wildfarbenen Hauskatzen. Gut – jene, die sich offen damit brüsten, den ersten, der ihnen über den Weg läuft, umzulegen, sind seltener oder zumindest stiller geworden. Aber eines ist geblieben – die ganz tief in der Jägerseele eingebrannte Überzeugung, der Luchs rotte unsere Rehe aus!

Aber auch das dürfen wir feststellen –  die Zahl jener Jäger, die im Luchs ein interessantes und unsere Reviere bereicherndes Tier sehen, das ganz maßgeblich dazu beigetragen hat, dass es heute jene Wildart gibt, die wir Reh nennen, steigt!


Der Luchs als „Designer“

Wir wollen die Sache nicht so hoch hängen: Dass unsere Rehe so ausschauen, wie wir sie kennen und mögen, ist nicht alleine das Verdienst des Luchses. Auch Wolf, Fuchs, Adler und andere haben dazu beigetragen. Eben alle jene, die den Vorläufern unserer Rehe arg zugesetzt haben. All jene, die sensible, immer aufmerksame Fluchttiere aus ihnen gemacht haben. Oder sagen wir es so: Die Schöpfer des Rehwildes sind (wir blenden die Herren Erdogan, Bush junior und etliche Klerikale einmal aus) all jene, die einen ähnlichen Geschmack wie wir Menschen (Veganer ausgenommen) entwickelt haben. Dank jener, die wir ziemlich kurzsichtig und verbohrt „Rehwildfeinde“ nennen, wurden Rehe zu Fluchttieren mit langen Läufen und Trägern, mit großen Lauschern und üppigen Riechzellen. Sie zwangen die Rehe, jenes Verdauungs-system zu entwickeln, das sie heute haben, mit einem Vorratsbehälter, den wir Pansen nennen, der ihnen Ruhepausen ermöglicht, der sich ganz automatisch im Frühwinter umbaut, ein Verdauungssystem, mit welchem sie im Winter auch schadlos hungern können. Sie zwangen das Reh, eine Vielzahl von Duftdrüsen zu entwickeln, die ihnen Nachrichten-übermittlung ebenso ermöglichen wie das Wiederfinden nach einer räumlichen Trennung.

Ohne Luchs & Co. sähen Rehe heute vielleicht aus wie bodenbewohnende Koalas oder große, „behaarte Nacktmulche“. Lassen wir den Schmäh, weil wir’s nicht wissen. Ziemlich sicher ist nur, dass sie so, wie wir sie kennen, nicht aussehen würden. Sie wären mangels Feinden keine eleganten Fluchttiere!

In die Reihe der Rehwild-Designer dürfen wir aber getrost auch uns Menschen einordnen. Wir sind es, die ihnen die höchsten geistigen Leistungen abverlangen, die dafür sorgen, dass lebenslängliches Lernen für Rehe überlebenswichtig ist. Wir waren in den letzten dreihundert Jahren für die Rehe sicher die weit größere Bedrohung als Luchs & Co. Wir haben bis vor wenig länger als 100 Jahren die Rehe noch ganz legal und höchst weidmännisch mit Drahtschlingen gefangen. Wir haben in früheren Zeiten ganz selbstverständlich sich drückende Kitze erschlagen und gefressen – auch wenn die Jagdkarte noch nicht erfunden war. Wir belauern und bejagen die Rehe in einer Dichte, die weder Luchs noch Wolf je erreichten. Dort, wo (wenn überhaupt) ein Luchs jagt, lauern gut und gerne 100 bis 200 menschliche Jäger hinterm Zielfernrohr.

Gut – Luchs und Wolf reißen auch Schafe und zuweilen größere Weidetiere. Das machen wir nicht. Wir beschränken uns aufs legale Schlachten, auf die Vergiftung des Grundwassers mit Nitrat und der Meere mit Kunststoff. Wir reduzieren den Lebensraum der Rehe Tag für Tag dramatisch mithilfe von Beton, Asphalt und Stahl. Wir bauen unablässig gigantische Rehwild-Totschlagfallen, die wir verschämt Verkehrswege und Infrastruktur nennen. Es ist nicht der gelegentlich ein Rehkitz fressende Fuchs, der sich weigert, das Klimaabkommen einzuhalten, und kein einziger Magenwurm nagt am Ozonschild. Das machen wir schon selbst – gegen uns und unsere Kinder und gegen die Rehe!


Wer „tötet“ wen?

Irgendwann müsste uns doch ein Licht aufgehen: Dem Luchs werden – Wissenschaft lebt von Irrtum und Korrektur – mehr als zwei Millionen Jahre zugeschrieben. In dieser Zeit lebte er mit und von den Rehen. Viele Rehe ließen viele Luchse wachsen. Bestes Beispiel ist Schweden. Wenige Rehe ließen Luchse verhungern. Klar – Luchse sind keine Generalisten; sie wissen sich in gewissem Rahmen zu helfen, können auf andere Beutetiere ausweichen. Das ist ziemlich einfach: Luchse fressen, was sie mit möglichst geringem Aufwand erbeuten können. Bei uns sind das heute die Rehe. Von denen gibt es so viele, dass uns der Straßenverkehr „helfen“ muss. Dass die Rehwildstrecken (Ausnahmen bestätigen die Regel) in weiten Teilen Europas ebenso steigen wie die Verbissschäden, deutet nicht auf eine aussterbende Art hin. 

Der Luchs frisst neben Rehen auch Wühlmäuse und Schneehasen, sogar Füchse und Wildkatzen. Aber Rehe sind für ihn einfach rentabler; sie erfordern weniger Aufwand und halten länger an. Werden die Rehe signifikant weniger, hat der Luchs durchaus ein Problem, vor allem bei der Aufzucht seiner Jungen. Wir könnten jetzt sagen, die Rehe töten durch ihr Wenigerwerden Luchse. Klar, das klingt auf den ersten Blick schon sehr absurd und mancher Leser wird fragen: Was hat der Autor getrunken …?

Fakt ist einfach, dass in der Regel die Beute den Räuber reguliert und nicht umgekehrt. Die Ausnahme von dieser Regel nennt man „ökologische Falle“. Also einmal angenommen, wir hätten die Rehe nahezu ausge-rottet (manche Jäger behaupten das ja allen Ernstes bereits) und es gäbe wirklich nur noch hier und dort Einzelne von ihnen, dann hätte der Luchs eine gewisse Chance, diese auch noch umzubringen. Allerdings nur wenn er sich für diese Aufgabe förmlich aufopfert und andere Beute ignoriert.

Das Problem des Luchses ist – deshalb wird er immer zweiter Sieger bleiben –, dass er abgenutzte oder fehlende Zähne nicht durch ein Kassengebiss ersetzen kann. Das reduziert seinen Jagderfolg ganz erheblich und letztlich auch seine Lebensdauer! Luchse sind Pirschjäger, die an ein Reh verdammt nahe herankommen müssen, um eine Chance zu haben. Sie müssen auf Überraschung setzen, nicht auf längere Verfolgung. Nach 20, vielleicht 30 Meter Spurt müssen sie das Reh haben, oder es ist in Sicherheit!

Nun lernen wir Jäger schon im Jungjägerkurs (und das stimmt ausnahmsweise), dass mehr Reviere leergepirscht als leergeschossen werden. Nehmen wir einmal den früher so beliebten Pirschsteig innerhalb des Waldrandes, eigentlich eine kommode Sache. Aber wenn man drei Morgen in Folge diesen Waldrand abpirscht, sieht man ohnehin keine Rehe mehr. Sie ziehen dann ein, so lange es noch dunkel ist, oder meiden diesen Waldrand. Wir erlegen dabei zwar kein Reh, aber wir können zumindest über rehfressende Luchse, depperte Frühsportler und wildhassende Förster jammern. Der Luchs pirscht keine drei Morgen in Folge denselben Waldrand ab. Er hat begriffen, dass die Rehe verstehen, was gespielt wird. Er „denkt“ ganz sicher, dass auch Rehe denken. Und wir? Wir glauben immer noch jenen armen Irren, die uns schon im Kindesalter gelehrt haben, dass nur wir Menschen denken und alle Kreatur zu den Irren gehört, denen der liebe Gott das Denken verboten hat. Natürlich denken Rehe auch. Sie ziehen aus dem, was sie erleben, die richtigen Schlüsse! Das ist ungeheuer viel. Es ist zweifellos mehr, als viele unserer Artgenossen schaffen – Eliten eingeschlossen. Deshalb kann sich der Luchs den 100-Hektar-Pirschbezirk (über den wir glücklich sind) nicht leisten. Die Rehe würden ihn „auslachen“ und mit ihrer Cleverness „töten“.


Jagen Luchse „weidgerecht?“

Wir könnten jetzt die Gegenfrage stellen: Jagen wir weidgerecht? Um das zu beantworten, müssten wir festhalten, dass sich jagdliche Zielsetzungen wie Jagdmethoden und letztlich der Inhalt der Weidgerechtigkeit immer bewegt haben. Betrachten wir die Weidgerechtigkeit der letzten 100 Jahre, dann war der „Hegeabschuss“, der Versuch bevorzugt, „Schwache und Kranke“ zu ernten, und selbstverständlich die Fütterung wesentlicher Bestandteil der Weidgerechtigkeit. Selektion wurde großgeschrieben. Ohne Pflicht zur Selektion würden weder Klassen noch Trophäenschauen Sinn machen. So betrachtet jagt der Luchs nicht weidgerecht. Ja, er pfeift sogar auf den elementaren Tierschutz. Er reißt beispielsweise die führende Rehgeiß so skrupellos wie manche Jäger den Fuchsrüden während der Aufzuchtzeit der Welpen …

Luchse sind Pragmatiker. Sie versuchen sich auf jenes Reh, das ihnen am nächsten kommt oder das sie als unaufmerksam oder behindert erkennen. Ingrid Hucht-Ciorga hat dazu schon in den 80er-Jahren gute Daten im Nationalpark Bayerischer Wald gewonnen. Es ist aber keineswegs nur die Distanz, die über einen Angriff des Luchses entscheidet; Luchse selektieren auch. Allerdings nicht im Sinne unserer Hegevorstellungen und -vorschriften. Den Einser-Bock gibt es in ihrem Denken nicht, weil sie schon vor etlichen Millionen Jahren begriffen haben, dass Geweihknochen nicht verdaulich sind. Luchse konzentrieren sich daher auf andere Merkmale, die oft etwas mit der Tageskondition zu tun haben. Was den Luchs ermutigt, ein Reh anzugreifen, kann seine schlechte körperliche Verfassung sein – die aber überhaupt nichts mit seiner genetischen Veranlagung zu tun hat. 

Was aber machen wir? Wir lassen den Huster mit seinen Dasseln vorsichtshalber noch ein Jahr älter werden, weil sein Geweih noch etliche Gramm schwerer werden könnte. Da tätigen wir schon lieber einen Hegeabschuss und erlegen den schwachen Gabler ohne Dasseln ... 

Polemik, pure Polemik, höre ich es tönen. Gut, fragen wir doch die Wissenschaft. Einen, der verdammt vertraut mit Luchs & Co. ist, finden wir drüben in Slowenien, Dr. Miha Krofel von der Uni Ljubljana. Er untersuchte die Kondition vom Luchs erbeuteter und überfahrener Rehe und zwar anhand ihres Fettgehaltes im Knochenmark. Alle vom Luchs gerissenen und untersuchten Rehe wiesen einen unterdurchschnittlichen Fettgehalt auf. Die völlig unselektiv überfahrenen Rehe, spiegelten hingegen einfach den vorhandenen Rehwildbestand.

Der Luchs selektiert also, wenn auch in ganz anderem Sinne als wir, und er trägt zur Gesunderhaltung der Rehwildbestände bei. Auf alten Stichen finden wir den Luchs zuweilen als Lauerjäger auf einem dicken Ast dargestellt, angespannt und bereit, dem arglos vorbeipirschenden Jäger ins Genick zu springen. Natürlich war das zweckorientierter Unsinn. Die Darstellung als gefährliche Bestie war die Voraussetzung für gute Gewinne bei Erlegung eines Luchses!


Ist der Luchs ein Trottel?

Für manche Jäger ist die Anwesenheit des Luchses im Revier eine Horrorvorstellung, deshalb gelingt es diesem ja auch nicht, bei uns wirklich Fuß zu fassen. Derselbe angedachte Sachverhalt, nämlich dass der Luchs mit den Rehen wirklich „aufräumt“, wird von einem Teil der Förster und Waldbesitzer als Hoffnung verstanden. Sie sehen im Luchs einen forstlichen Dienstleister. Motto: Luchs da, Rehe weg, Wald wächst! Ob nun Horrorvorstellung oder Hoffnung, beides ist ziemlich naiv. Wenn wir tatsächlich glauben, der Luchs würde mit vier Fangzähnen und etlichen Krallen mehr erlegen als wir mit Blaser, Swarovski und Suzuki, stellen wir uns selbst das denkbar größte Armutszeugnis aus! Der Luchs pfeift auf Abschusspläne und vom Menschen entsprechend dessen Bedürfnissen geschriebene Hegerichtlinien. Er jagt nicht, um Forstschutzkosten zu sparen, aber er jagt absolut nachhaltig. Sinkenden Jagderfolg kann er weder mit mehr Ansitzstunden noch mit stärkerer Optik kompensieren. Er produziert auch keine vierbeinigen Jungjäger, in der wahnwitzigen Vorstellung, dass mehr von ihnen mehr fressen – also ein Schalenwildproblem lösen. Er macht das Gegenteil. Er jagt Mitjäger konsequent zum Teufel! Werden seine Beutetiere – warum auch immer – weniger, streift er eher weiter umher, beansprucht ein größeres Jagdgebiet. Sein persönlicher Aufwand, um satt zu werden, steigt, was in der Konsequenz zu geringeren Nachwuchsraten und höherer Jugendsterblichkeit führt.

Der Luchs löst weder ein Schalenwild- noch ein Jungwaldproblem; beide sind vom Menschen gemacht. Also gibt es weder für Angst noch für Hoffnung Anlass. Und überhaupt: Werden wir tatsächlich zum „Luchsfreund“, weil wir eine Dienstleistung von ihm erwarten?

Selbstverständlich nimmt der Luchs Einfluss auf Rehwildbestände, und wie wir gesehen haben, ist dieser durchaus positiv. Aber er reduziert nicht entsprechend unseren Erwartungen, und er kann es wahrscheinlich auch gar nicht. Dies wird überall dort deutlich, wo der Luchs wieder/noch daheim ist. Die Schweizer Förster jammern trotz Luchs über die Waldentmischung durch Schalenwild. Auch in der Slowakei hat der Jungwald selbst dort Probleme, wo Luchs und Wolf gemeinsam vorkommen.

Die Zeit hat gezeigt, dass es auch ohne Luchs geht. Seine mehr als hundertjährige Abwesenheit hat weder die Erfindung des iPhone noch der Kaffeemaschine verhindert. Im Gegenteil, wir haben die Zeit genutzt, das Auto erfunden und dieses zu einem „Beutegreifer“ gemacht, der ungleich erfolgreicher ist als der Luchs, ja, dem der Luchs selbst zum Opfer fällt. Und obwohl wir wissen, wie gefährlich Autos für Rehe sind, kommt keiner auf die Schnapsidee, wenigstens ein Fahrverbot in den Dämmerungs- und Nachtstunden zu fordern.

Braucht der Fremdenverkehr den Luchs? Kaum, denn auch bei maximaler Siedlungsdichte wird ihn kaum ein Urlauber in Anblick bekommen. Brauchen die Rehe ihn, um langfristig so zu bleiben, wie sie sind? Auch nicht, denn Jäger, Nichtjäger, Hunde und Autos werden sie auch weiterhin auf Trab halten. 

Eine andere Frage ist die, ob der Luchs dem Jäger gar das Handwerk erschwert, weil er die Rehe vorsichtiger macht. Das wird man nicht grundsätzlich verneinen können, zumindest nicht dort, wo die Rehe mit dem Luchs noch nicht vertraut sind. Immerhin mussten die Rehe mehr als hundert Jahre auf ihn „verzichten“. Sie müssen sich erst wieder an ihn gewöhnen, lernen, mit ihm umzugehen. Vermutlich werden die Rehe schneller lernen als wir. Dafür gibt es inzwischen genug Beispiel.

Wozu also der Luchs? Gegenfrage: Wozu brauchen wir in Österreich Muffelwild? Heimisch sind die Muffel nicht. Ob man sie überhaupt als Wild bezeichnen kann, ist fraglich. Möglicherweise waren es nur verwilderte Hausschafe, die zudem vielfach mit anderen Schafrassen verbas-tardiert wurden. Der Luchs hingegen ist Österreicher!

Nein, die Rehe brauchen den Luchs nicht, aber er dient durchaus ihrer Gesundheit und Fitness!

Noch etwas: Für den Luchs ist Österreich der wichtigste Brückenkopf Europas. Österreich verbindet die ohnehin nur noch geringen Vorkommen des Balkans mit denen der Schweiz, Tschechiens und der Slowakei. Ohne Österreich schaut es für den Luchs im Süden und Osten Europas schlecht aus, weil er heute schon in einem Teil seines europäischen Verbreitungsgebietes mit großen Inzuchtproblemen zu kämpfen hat. Noch jemand hat zu kämpfen: Österreich – das es nicht verdient, in dieser Sache den Ewiggestrigen zugeordnet zu werden!

Bruno Hespeler