Die Wilderer von der Schinderleiten

Von Siegmund Klakl
Illustriert von Veronika Grünschachner-Berger

 

 

Von den Hahnen war noch nichts zu sehen und neben ihm im Schirm sank der Vater in tiefen Schlaf. Franzi war fassungslos.
Da unten in der Schinderleiten zimmerten sich die Wildschützen ihre Hochstände und keinen da heroben schien das zu beeindrucken. 

Im kleinen Tischherd knisterte das Birkenholzfeuer und verbreitete wohlige Wärme, es roch nach deftigem Speck, derbem Bauernbrot, schwarzem Tee und Schnaps. Es dampfte und stank auch ein bisschen nach Schweiß. Eine rauchende Petroleumlampe und zwei, drei Wachskerzen spendeten spärliches Licht. Der achtjährige Franzi saß mit seinem Vater und dem Jäger Sepp in der Jagdhütte, dem Kristallisationspunkt aller jagdlichen Riten und Mythen, Rückzugsrefugium wahrer Männlichkeit und umwuchert von wilden Geschichten von der Jagd. Franzi war dieser rauen, archaischen Romantik äußerst zugetan, sie beflügelte seine Fantasie. Selbst die erstaunlichsten jagdlichen Erzählungen und Ausschmückungen seines Vaters hat er nicht nur geglaubt, sondern sehr oft in seinem kleinen Kopferl weitergesponnen, um sich selbst zu einem Teil der Geschichte zu machen. Die Jagd war für Franzi ein sagenumwobenes Abenteuer, vom Vater außerdem mit solcher Passion und Selbstverständlichkeit ausgeübt, da gab es kein Entrinnen, dem wollte er sich stellen.Und an jenem Tag, es war der erste Samstag im Mai eines Jahres, in dem der Frühling den Schnee des Winters schon weit hinauf auf die Almen schmelzen hatte lassen, sollte der kleine Franzi zum ersten Mal mit zur Birkhahnbalz! Sein kleines Jägerherz bebte, als sein Vater ihm dieses Versprechen gab. Und jetzt saß er zwischen den beiden knorrigen Jägersmännern mit ihren speckigen Lederhosen und lauschte ihren unglaublichen Geschichten mit weit aufgesperrten Ohren und offenem Mund! Auf der Hütte! In einer Anderwelt! Unendlich weit weg von allem! Die beiden Männer gönnten sich einige Häferln Tee mit ordentlich Schnaps darin, rauchten Pfeife und sprachen Latein – Jägerlatein! Man konnte gut sehen, wie sich die Balken der alten Hütte bogen. Franzi lauschte den schaurigen Geschichten, in denen sich heldenhafte Jäger den bösen Wilderern in den Weg stellten, und anderen Aufschneidereien mit großer Begeisterung, sank aber bald in sein Strohbettchen und entschwand ins Reich der Träume. Er träumte von der Gamsbrunft, von über Felsklippen hetzenden Gamsböcken, von  bis zum Bauch im Schnee steckenden Jägern in weißen Schneehemden, die auf den gut 300 Meter entfernten Gamsbock anlegten, von den Wildschützen, die ganz oben auf der Schneid einen Gams nach dem anderen schossen und hämisch herunterlachten zu den im Schnee versinkenden Jägern ... 

Doch die Nacht war kurz, um halbzwei rasselte der Wecker und die Hahnenjäger krochen aus ihren Federn in der inzwischen ausgekühlten und schändlich stinkenden Hütte. Ein wenig Tee vom Abend, ohne Schnaps, war noch übrig. Den schlürften die Männer, Franzi bekam ein Stück Schokolade. Der Vater und Sepp stiegen in ihre bocksteifen Lederhosen, Franzi musste seine noch etwas klamme Leinenhose finden, er zitterte am ganzen Leib, ihm war kalt und er war unendlich aufgeregt. Bereits in der Hütte wurde kein lautes Wort mehr gesprochen, das Nötigste wurde geflüstert, auf dem Weg und selbstverständlich dann im Schirm dürfe keinesfalls mehr gesprochen werden und man müsse sich unbedingt so leise wie möglich bewegen, wurde dem kleinen Buben nachdrücklich eingeschärft und Franzi lauschte andächtig und schlotterte vor sich hin. Der Vater löschte die Kerze aus und trat aus der Hütte, Sepp und Franzi folgten ihm. Es war stockfinstere Nacht, kohlrabenschwarze Nacht. Nichts zu sehen, kein Mond, keine Sterne; und es war grimmig kalt. Franzi bekam es mit der Angst zu tun. Wie um alles in der Welt sollten die Jäger zu den Birkhahnen finden, man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen! Der Vater knipste eine Taschenlampe an, den spärlichen Schein richtete er stets mit größter Sorgfalt zu Boden, um nur ja nicht von ferne schon gesehen zu werden, von wem oder was auch immer. Eineinhalb Stunden Aufstieg zum Birkhahnplatz standen bevor. Der kleine Bub heftete sich an die Fersen seines Vaters, Sepp ging bedächtig schnaubend ohne Lampe hinterher. Am Anfang ging das nicht besonders gut. Franzi stolperte über jede Wurzel, der Jägerstock, den ihm sein Vater in die Hand drückte, war ihm äußerst hinderlich, aber natürlich wagte er nicht, ihn einfach von sich zu werfen. So quälte er sich durch die undurchdringliche Dunkelheit, nur langsam wurde ihm ein wenig wärmer. Allmählich gewöhnten sich auch seine Augen an die Nacht, dann wurde es besser. Er ließ keinen Meter Abstand entstehen zwischen den Fersen seines Vaters und seinen Zehenspitzen.

Der Weg führte zunächst mäßig ansteigend durch den Hochwald, die mächtigen Fichten rauschten im Wind, nichts war zu sehen, nur der schwache Schein von Vaters Taschenlampe, der dem Buben aber immer zwei Schritte voraus war, dort, wo Franzi seinen Fuß hinsetzen musste, war es längst wieder dunkel. Dann wurde der Wald lichter, die Äste schlugen einem nicht mehr ins Gesicht. Nicht dass das an der Dunkelheit etwas geändert hätte, aber doch, den Blick gegen das Firmament gerichtet, meinte Franzi da und dort bereits die Umrisse der riesigen Bäume zu erkennen. 

Der Vater vorne und auch Sepp hinten, sie setzten ihre Schritte mit einer penetranten Gleichmäßigkeit, der Hang wurde steiler, das Tempo blieb gleich, das Herz des achtjährigen Buben begann zu fliegen. Und dann hörte er es zum ersten Mal – ein dumpfes Klopfen, undeutlich, und ein Ächzen, vom säuselnden Wind an sein Ohr getragen. Eine Zeit lang Ruhe. Nur das Keuchen und Schnauben von Sepp. Dann wieder einige hämmernde Geräusche, unregelmäßig, einmal lauter, dann wieder kaum zu hören. Die beiden Männer nahmen keine Notiz davon. Franzi blickte sich um, gegen den Himmel konnte er die mächtigen Fichten schwanken sehen, es war noch immer verdammt dunkel. Die beiden Männer stapften unbeirrt weiter, der Bub musste Schritt halten und seine Beine waren erheblich kürzer als die der Erwachsenen. Doch das Klopfen hörte nicht auf, nun endlich blieb Vater einmal stehen, um ein wenig zu verschnaufen. Da meinte Franzi, auf einem der Bäume eine Gestalt zu erkennen, eine menschliche Gestalt, die sich dort zu schaffen machte und gegen den Stamm hämmerte, ja, daher könnten die Geräusche kommen! Bald erspähte er weitere Gestalten, die in halsbrecherischer Höhe herumturnten, sie hatten Hämmer oder Hacken in den Händen und schlugen gegen die Bäume, die immer heftiger schwankten. Der Vater würdigte sie keines Blickes, überhaupt schien es Franzi, als würde er sie gar nicht bemerken. Mit dem Zeigefinger am Mund erinnerte er seinen Sohn noch einmal daran, still zu sein, und stapfte weiter. Für Franzi war bald klar, dass es sich da nur um Wilderer handeln konnte, die im Schutz der Dunkelheit ihre Hochsitze in die schwindelerregenden Baumkronen  bauten. Und wenn die Jäger wieder im Tal wären, würden sie ihre frevelhafte Jagd beginnen und alles niederschießen, was ihnen vor die Büchse käme! Immer wieder hörte er sie klopfen, und der Vater bemerkte nichts, wie war das möglich? Er drehte sich zu Sepp um, aber auch der schien nichts Ungewöhnliches zu hören oder zu sehen. Wie gibt es denn so etwas? Da werken böse Wilderer vor ihren Augen und Ohren und die Jäger bemerken es gar nicht! Franzi war verstört, doch er wagte es nicht, auf seine Beobachtung aufmerksam zu machen, Stillschweigen war schließlich strengstens verordnet.

 

Die Geräusche wurden undeutlicher und versiegten schließlich, die Jäger kamen über die Baumgrenze hinaus und mit schlafwandlerischer Sicherheit führte der Vater sie zum vorbereiteten Schirm, in dem sie sich nun verkriechen sollten und von dem aus sie die Balz der Birkhahnen bestaunen wollten. Es war immer noch stockdunkel. Die beiden Männer entblößten ihre Oberkörper, um sich frische Hemden überzuziehen, auch Franzi musste das machen, dann packten sie sich in ihre Lodenmäntel, zogen sich warme Mützen über den Kopf und kuschelten sich in den engen Schirm. Franzi nahmen sie in die Mitte. 

Vater schlief alsbald ein. Franzi war fassungslos. Da unten im Hochwald zimmerten sich die Wildschützen ihre Hochstände und keinen schien das zu beeindrucken. Die Kälte kroch dem Buben allmählich über den Rücken, er begann zu schlottern, Vater legte ihm seinen Arm über die Schulter und langsam lichtete sich der Himmel.

Tsch-sch – Tsch-sch. Der erste Birkhahn war eingefallen. Mit freiem Auge noch kaum auszumachen, tänzelte auf einem kleinen Schneefeld vor ihnen ein schwarzes Knäuel auf und ab und gab höchst seltsame Geräusche von sich. Der Vater hatte Franzi natürlich eingestimmt auf diesen Morgen und das Rauschen und Rodeln des kleinen Hahnes bereits am Abend in der Hütte nachgeahmt, so gut es halt ging. Der wirkliche Balzgesang dieser kleinen Ritter überraschte den Buben aber doch sehr. Und als auch noch ein zweiter und ein dritter Hahn auf dem Schneefeld erschienen und das Licht besser wurde, sodass man sie sich nun aufplustern  und aufeinander losgehen sah, kam Franzi aus dem Staunen nicht mehr heraus und vergaß für einige Zeit alles um sich herum: die Zeit, die grimmige Kälte, den schweißtreibenden Aufstieg in der bedrohlichen Dunkelheit und freilich auch die Wilderer im Hochwald. Ein wahres Spektakel, er war restlos begeistert.

Ein Hahn nach dem anderen schließlich verstummte, schien seine Federn ein wenig zu ordnen und strich ab. Und wenig später blinzelte auch schon die Sonne über den gegenüberliegenden Bergrücken, der Wind hatte sich gelegt und die drei Jäger krochen aus ihrem Versteck. Franzi konnte den Blick nicht von dem Schneefeld lassen, wo gerade noch ein grandioses Schauspiel im mystischen Licht der Dämmerung gegeben worden war, jetzt war die Bühne kahl und leer, fröstelnd rieb er sich die Augen.

Der Vater kramte eine Thermoskanne aus seinem Rucksack und reichte jedem einen Schluck Tee, er war nur noch lauwarm. Dann machten sie sich fertig zum Abstieg. Und die Wilderer kamen dem Franzi natürlich wieder in den Sinn. Kein Wort, keine Geste, die verraten hätte können, dass die beiden Jäger etwas davon bemerkt hätten. Franzi wagte nicht, danach zu fragen. Also stapfte er seinem Vater nach, noch immer ganz benommen vom Zauber der Birkhahnbalz. Wie anders sah doch der Hang aus, den sie vor zwei, drei Stunden keuchend aufwärtsstiegen, es war kaum zu fassen. Und die mächtigen Bäume, auf denen Franzi die Wilderer gesehen hatte, wo waren sie? Die lausigen Krüppelfichten konnten es nicht sein, weiter unten wurden die Bäume höher, bald tauchten sie wieder in den Hochwald ein, doch es war kein einziger Hochsitz zu erblicken, auch kein Klopfen war mehr zu hören und schon gar keine Gestalt zu erkennen. Der Vater und der Sepp taten, als wäre nichts.

Die Jause bei der Hütte schmeckte Franzi nicht, er konnte kaum einen Bissen hinunterbringen und versuchte, wieder an die Birkhahnen oben auf der Schneid zu denken. Jedes Mal, wenn er in späteren Jahren die Schinderleiten hinaufstie,g in stockfins-terer Nacht zum kleinen Hahn, musste er an seine Wilderer denken. Aber auch er selbst hat sie nie mehr gesehen oder gehört. Es blieb sein Geheimnis, nie erfuhr auch nur irgendjemand etwas davon.