Jagderlebnis

Nachsuche mit Belohnung

Inmitten der gurgelnden und blasenden Schar hatte ich mir einen Birkhahn ausgeguckt, der mit seinem schwarzblau blitzenden Gefieder breite, lange Sicheln hinter sich herschleppte. Auf den Schuss kugelte er ein wenig den Hang hinab, blieb verendet liegen. Urplötzlich fauchender Schwingenschlag über uns ...

Fackelschein. Hörnerklang. Bunte Strecke von Rot-, Schwarz- und Rehwild. Ein paar Füchse. Dahinter, schon ein wenig im Dunkeln, die Schar der Jäger. Wo soll ich da den Luis finden? Bei dieser wie auf den vorhergegangenen Drückjagden war ich mit meiner BGS-Hündin Raika als Nachsuchenführer dabei. Nach dem zweiten Trieb bekam ich ein Standprotokoll für die Anschusskontrolle eines vermutlichen Fehlschusses auf einen Keiler zugeteilt, was keine große Hoffnung auf Erfolg versprach. Doch letzten Endes liegt die Entscheidung dafür immer noch beim Hund. Was mir an diesem Zettel auffiel, war der Name des Schützen: "Luis M." Ein wohlklingender Südtiroler Name. Ich weiß, dass bei uns im Ebersberger Forst jedes Jahr eine Gruppe aus dem "heilgen Land Tirol" dabei ist. Und dass diese Jäger hauptsächlich wegen der Sauen hier sind. Daheim haben sie – noch – keine. 

Die Nachsuche war kurz und – erfolgreich. Nach 200 Metern standen wir vor dem längst verendeten etwa vierjährigen Keiler. Das war nach dem letzten Trieb und es begann schon schnell zu dunkeln. Bis ich den schweren Wutz im Auto hatte, war’s Nacht geworden. Am Aufbrechplatz fand ich keinen Menschen mehr, also versorgte ich den Keiler selber, schaffte ihn schnellstens zum Streckenplatz, wo bereits die Ansprache des Jagdleiters begonnen hatte.

Ich weiß, wie sehr sich ein Jäger freut, wenn wider Erwarten die Erfolgsmeldung kommt, und wenn’s ein rechter ist, dass er auch sein Wild gern noch anschauen möchte. Also fragte ich mich nach dem Halali durch. Nach Luis M. Einer der Ansteller zeigte mir die Gruppe der Südtiroler, die in der Finsternis, ein wenig vom Fackelschein erhellt, beieinanderstand.

"Bitte, wer von euch ist der Luis?"

Einer aus ihrer Mitte meldete sich mit: "was willsch?"

Ein schwarzer Bart umrahmte das scharf geschnittene Gesicht eines hochgewachsenen Mittdreißigers. Trotz der Dunkelheit meinte ich in seinen Augen, die mich kritisch fixierten, den Hauch eines stillen Kummers zu erkennen. Ich führte ihn zu seinem Keiler und gratulierte ihm mit Weidmannsheil. Überglücklich quetschte er mir die Hand.

"Des isch mei erschte Sau! Und no a gueter Keiler!"

Er kniete nieder, fuhr mit der Hand über die Schwarte, betastete staunend wie ein Kind seine Beute und freute sich über die beachtlichen Keilerwaffen. Drehte den Wutz herum und schaute sich seinen Schuss an. Von den Fichtenzweigen an der Strecke nahm ich einen Bruch, den er beglückt an seinen Hut steckte. Ich ließ ihn allein. 

Gerade als ich mich in der Dunkelheit zu meinem Wagen davonstehlen wollte, hörte ich eilige Schritte hinter mir und eine Hand legte sich auf meine Schulter. Der Luis.

"Geh mit zu meinem Auto!" Dort holte er aus dem Kofferraum eine Dreier-Schachtel mit Wein.

"Aus meinem Weinberg im Etschtal. Und nochamal Weidmannsdank für die Nachsuch’!"

"Gib mir deine Adresse", sagte ich, "damit ich dir die Keilerwaffen schicken kann!"

Wir haben dort keine dieser Flaschen geöffnet, aber noch lange standen wir in der Nacht beisammen, und als wir uns trennten, hatten sich zwei Jäger gefunden, die offenbar aus dem gleichen Holz geschnitzt waren.

Das Jahr ging dahin. Danach musste ich oftmals an den Jäger denken, der sich so an seiner Beute gefreut und sich sogar auch noch für die Nachsuchenarbeit bedankt hatte. 

Im ausgehenden Winter, nachdem ich ihm die Keilerwaffen geschickt hatte, erreichte mich eine Einladung auf einen Spielhahn im Nordtiroler Revier vom Luis. Im Anschluss an Nachsuchen habe ich ja schon so manches erlebt, aber das hier war mehr als ungewöhnlich; das ließ mein Herz höherschlagen. Das stand im krassen Gegensatz zu jenem Jäger, dessen Sau ich nach schwerer Nachsuche noch mit Fangschuss erlösen musste. Der drückte mir zum Dank ein Zwei-Euro-Stück in die Hand mit den Worten: "Kaufen Sie Ihrem Hund was Schönes!"

Es war Anfang Mai, als ich über den Brenner fuhr. Im Tal leuchteten die Obstbäume wie überschneit in weißer und rosa umwölkter Blütenpracht. In einem Seitental grüßte vom Berghang eine zinnenbewehrte Burg. Der Edelansitz von meinem neuen Freund Luis. Der Empfang war herzlich und die Gastlichkeit im Kreis seiner Familie wie aus einem Roman. Er führte mich umher und wies mit ausgestreckter Hand stolz ins Tal: "Unsere Weingärten."

Jetzt endlich sah ich ihn bei Tageslicht. Meine erste Empfindung, dass den Mann irgendeine Schicksalslast drücke, war wieder gegenwärtig. Der Abend verging in kulinarischen Höhepunkten, umrahmt von den köstlichsten Weinen, selbstverständlich alle aus eigenem Anbau. Der Freund hatte mich in der Einladung gebeten, mir viel Zeit zu nehmen, denn nichts sei ihm mehr zuwider als Eile bei der Jagd. Auch hier ein Gleichklang.

Am nächsten Tag brachen wir auf in sein Bergrevier in Nordtirol. Der steile Weg zu seiner oberen Jagdhütte – im unteren Teil des Reviers war deren noch eine – hatte es mit unseren wohlgefüllten Rucksäcken in sich. Luis war besorgt, dass es mir auch an nichts fehle, und so drückten einige Flaschen seiner Kreszenzen nebst guter Südtiroler Marende unsere Schultern. Wir würden es am Morgen nicht mehr allzu weit haben. Lieber sich am Abend etwas mehr plagen und dann nächstentags gemütlich aufsteigen. Wieder ganz im meinem Sinn.

Beim Aufstieg hatte dieser sehnige Mann, der mit keinem Gramm zu viel auf den Knochen als das Urbild des Bergjägers erschien, offenbar Probleme. Immer wieder blieb er stehen, verschnaufte minutenlang und versteckte körperliche Schwäche, indem er mir die Berge ringsum erklärte. Gegen diese Rasten hatte ich nichts einzuwenden, war ich doch selber nimmer der Jüngste und um Verschnaufpausen froh. Doch etwas stimmte mit diesem Berglertyp nicht. Wir kannten uns ja noch nicht lange, so lag es mir fern, nach seinen Problemen zu fragen. Er wird, so sagte ich mir, schon selber damit herauskommen, wenn er es will.

Unser morgendlicher Gang zum Balzplatz beim Sternenschein war genussvoll nur eine gute Halbstunde weit. Im Latschenschirm sicher gedeckt, warm in unsere Lodenkotzen gehüllt, erwarteten wir den Tag. Langsam nahmen die Berge in der Runde Gestalt an. Vor uns, fast wie eine Arena, von Latschen und riesigen Felsbrocken gesäumt, lag der von Firnschnee bedeckte Tanzplatz der schwarz-weiß-roten Ritter. Die Stille, die Einsamkeit und die Erkenntnis, auf weitem Umkreis dem Menschengewühl entfleucht zu sein, machten den Genuss des Jagens vollkommen. Kein Wort, nur Schauen und Lauschen. Und dann, noch war kein Schusslicht, fiel schon der erste Hahn ein. Ein kurzes Sichern, und er spielte sich ein. Bald darauf waren drei, dann vier, fünf Kleine Hahnen auf der Tanzbühne. Lange schauten wir dem Schauspiel zu, bis es voller Tag war, die Hennen zu locken begannen und es Zeit wurde, sich zum Schuss zu entschließen. Inmitten der sich ständig drehenden, gurgelnden und blasenden Schar hatte ich mir einen Hahn ausgeguckt, der mit seinem schwarzblau blitzenden Gefieder breite, lange Sicheln hinter sich herschleppte. Auf den Schuss kugelte er ein wenig den Hang hinab und blieb mit ausgebreiteten Schwingen am unteren Ende des Schneefelds verendet liegen. Wie atemlos vor Freude packte mich der Freund an der Schulter und, meine Hand drückend, keuchte er seinen Glückwunsch: "Weidmannsheil!"

Wir blieben noch eine Zeit lang sitzen in unserem Schirm, erfreuten uns am Anblick der unweit liegenden Beute, des Morgenlichts auf den Bergen – des Jägers Glück war nicht zu überbieten. Urplötzlich, wir waren noch ganz im Nacherleben versunken, fauchender Schwingenschlag über uns, ein Adler kam wie ein Schatten von hinten herangeschossen – im Niederstoßen packte er den verendeten Spielhahn – und war, ehe wir noch einer Reaktion fähig waren, mitsamt meiner, nun seiner Beute in der Überriegelung des steilen Berges verschwunden.

Wir schauten uns sprachlos an. Das war doch die Höhe! Als Erster fand der Luis die Sprache wieder.

"Der Sauteifl!"

Und dann mussten wir doch lachen. Was sollten wir auch anderes machen. Der Adler hatte sich nur das geholt, was ihm aus seinem Reich zustand. Da, wo der Hahn gelegen hatte, zeugten nur noch ein paar Schweißspritzer und eine Feder von der Schwinge, dass wir das Ganze nicht erträumt hatten. Die konnte ich mir nun an den Hut stecken.

"Morgen schiaß mer uns no oan, den hol’ mer uns aber glei nachm Schuss."

Drunten, beim Frühstück in der Hütte erzählte mir der Luis, dass er unheilbar erkrankt sei. Er habe sich entschlossen, die Zeit, die ihm noch verbleibe, mit Jagern, gut Essen, gut Trinken und in froher Gesellschaft Gleichgesinnter zu verbringen.

"Wann’s aus is, is aus!" Das war seine Einstellung. Den Weinbaubetrieb habe er seiner Schwester übergeben, sodass er sich ganz der Jagd widmen könne.

Wir sind darauf noch zwei Morgen in finstrer Nacht zum Balzplatz aufgestiegen, doch die Hahnen hatten sich zum gegenüberliegenden Berg verstrichen. Als wir uns trennten, war sein Blick fest und hoffnungsfroh.

"Kommst halt nächstes Jahr wieder – wann’s mag!"

Im darauffolgenden Herbst schaute ich bei all unseren Drückjagden vergeblich nach dem Luis aus. Einmal hörte ich, dass die Südtiroler wieder da seien.

"Was ist mit dem Luis?", war meine bange Frage.

"Der ist zurzeit in Afrika, der möcht‘ noch einen Büffel schießen." Das klang schon mal nicht schlecht. Im Jahr darauf rief der Freund an und lud mich wieder zum Spielhahnjagern ein. Ein ganz anderer Luis empfing mich auf seinem Ansitz in den Bergen. Straff und voller Lebenslust, sprühenden Auges umarmte er mich.

"Ich hab’s geschafft! Ich hab’s geschafft! Jagern ist die beste Medizin. Die Krankheit bin ich los!"

Wir haben diesen unglaublichen Sieg gebührend gefeiert. Ach ja, einen Hahn haben wir auch miteinander geschossen. Den haben wir aber gleich nach dem Schuss geborgen.

Gerd Meyden