Irgendwo im Auwald

Als die Schatten länger und die Gelsen lästiger wurden, standen plötzlich zwei Überläufer vor mir. Ich hoffte auf beide ...

Auwald – Wildnis aus Weide und Schilf, aus Pappel und Brennnessel, garniert mit Springkraut und Goldrute. Ein aufgeschütteter, breiter Damm mittendurch, gebaut für die Holzabfuhr, und immer wieder rechts oder links ein abzweigender, bolzgerade in die Wildnis führender Erdweg. Kniehoch das Gras auf ihm und an den Rändern große Beete wilder, würzigen Ruch verströmender Minze. An einem dieser Wege, eingebaut in eine Weißweide, eine Ansitzleiter. Ich mag Ansitzleitern, ganz besonders an so beschaulichen Plätzen. Aber meine Liebe zu ihnen verdorrt mit jeder Stunde, die ich auf einer solchen Leiter verbringe, wenn ihre Sitzfläche aus lückig aufgenagelten Rundhölzern besteht.

Nach einer Stunde wird das Sitzen zur Qual. Man wird unruhig, versuchte es mit kleinen Korrekturen und Gewichtsverlagerungen, die alle nur für kurze Zeit Entlastung bringen. Dann schmerzt der Spiegel neuerlich. Gestern, als ich mit liebenswürdiger Geste und der Beteuerung, alles freizuhaben, was sich im Auwald verberge und gerade Jagdzeit habe, den Sitz zugewiesen bekam, dachte ich zuerst an ein kurzes Brett als zusätzliche Sitzauflage. Doch als aus Licht tiefe Dämmerung wurde und ich das zugewiesene Foltergestell verließ, wartete man schon im Gasthaus auf mich. Wo auch hätte ich suchen sollen?

Ach so, gesehen? Ein vermutlich mit allen Hochwässern gewaschener Auwaldhase und drei Jungfüchse. In der Früh nahm ich eine im Kofferraum meines Autos befindliche Decke zum Ansitz mit. Sie war zweifellos ein Zugewinn an Komfort, erhob die Leiter trotzdem nicht in die Premiumklasse. Als ich saß, war es noch finstere Nacht. Wunderschöne Sommernacht, durchdrungen von vielen verschiedenen Düften, jenem weißer Ligusterblüten und jenem brackigen Wassers in Lacken und Altarmen. Unweit von mir das silberne Schluchzen einer Nachtigall. Dazu das „Schnurren“ unzähliger Laubfrösche und irgendwo vor mir in einem der von breiten Traktorreifen geschaffenen Miniteiche das bedächtige „Hupen“ der Gelbbauch-Unke. Es war einfach toll, war eine Traumstunde!

Um vier Uhr wurde es hell, bis sieben Uhr wollte ich sitzen. Man macht dort draußen keine Böcke aus. Man geht ins Revier, und wenn man einen halbwegs passenden Rehbock sieht, dann schießt man ihn, egal was er aufhat. Wer eingeladen wird, darf sicher sein, keinen „falschen“ Bock zu erlegen. „Wenn einer kommt, dann mache nicht lange herum“, wurde mir gesagt. Ja, das durfte man wirklich nicht. Der Weg war kaum breiter als drei Meter und auf beiden Seiten fassten ihn hohe, grüne Wände ein, die jedes Reh im Nu verschluckten.

Sonne stieg überm Auwald empor, fiel auf meine Leiter. Angenehme Wärme, die schläfrig machte. Irgendwann eine Geiß mit ihren beiden Kitzen. Immer wieder warf sie ruckartig auf, äugte zur Forststraße, auf der wohl zuweilen Autos stehen blieben …

Das dumpfe Tuckern schwerer Dieselmotoren vom Strom herüber, der sich hinterm Auwald träge meerwärts schob – ein Lastkahn, vielleicht ein Schubverband? Erinnerungen wurden wach: Damals, erst sechzehn war man; einem Rehbock drüberhalb des breiten Stroms galt es ... Mit dem Moped großer Umweg, quer durch die Stadt und über die Brücke, durch fremde Reviere ins Nachbarland. Gewehr ohne Futteral überm Buckel. Niemand hat es damals gestört. Grenzübertritt irgendwo mitten im Auwald. Bonjour, je suis ici …
Permis de chasse? Jung war man, unbedarft und voll Hoffnung.

Geiß und Kitze zogen sich in die Wildnis zurück; etliche Millionen Gelsen blieben, leisteten ungebeten Gesellschaft. Hinter mir ein Auto, das, ohne langsamer zu werden, an meinem Weg vorbeischnurrte. Später zwei aufheulende Motorsägen. Erinnerungen an ein Revier in den Donau-Auen. Eine doppelstöckige Kanzel, in welcher der Jagdherr in der Brunft zwei Wochen Tag und Nacht hauste und den Funkverkehr überwachte. Richtig gelesen – Funkverkehr. Ein Professor hatte ihm für ein gewisses Entgegenkommen für wissenschaftliche Arbeiten gedachte Funkfrequenzen überlassen. Und so hingen in der hohen Zeit der Auhirsche an Salzstöcken, bei Wildwiesen und dort, wo das Hochwild bevorzugt die Altarme durchquerte, Mikrofone. Im Obergeschoß der Kanzel hörte der Jagdherr dann den „Funkverkehr“ ab, beurteilte die einzelnen Stimmen und dirigierte mittels Betriebsfunk seine die Gäste führenden Helfer zu den interessanten Örtlichkeiten. Jagd hat viele Gesichter und sie hat weit hässlichere zu bieten!

Kurz vor sieben Uhr. Wie ich mich anschickte, die zur Polsterung mitgebrachte Decke hinunterzuwerfen, fiel mein Blick auf eine große, sich auf der untersten Sprosse sonnende Äskulapnatter. Kamera natürlich im Auto, aufgezwungenes Handy, mit dem man nur telefonieren konnte …
Schließlich packte ich mir die Decke über die Schulter und stieg langsam und behutsam die vier oder fünf Sprossen hinab. Die Natter hielt aus; sie rührte sich nicht. Was tun? Dann ein sehr, sehr weiter, die unterste Sprosse aussparender Schritt auf den Boden. All das hielt die Natter aus. Erst als ich mich anschickte zu gehen, huschte sie davon.

Im Gasthaus gemeinsames Frühstück, danach der vergebliche Versuch, Schlaf nachzuholen. Stattdessen Fotopirsch im Auwald. Dabei fand ich im Wasser des Altarms ein knapp „spiegelbreites“, am Ufer dümpelndes Brett. In der Hoffnung auf einen gewissen Trocknungsprozess sperrte ich es den Tag über ins heiße Auto.

Letzter Abend: Um sieben Uhr saß ich, versorgt mit reichlich Autan und ausgestattet mit einem Mückenschleier. Gegen acht Uhr kam vom Altwasser her, sein Fahrrad durchs hohe Gras des Weges schiebend, ein Angler. Er hatte zwei Ruten an die Stange seines Fahrrades gebunden und sein restliches Zauberzeug im Rucksack: „Tag, sind Sie Jäger?“ Und weil ich ihm halblaut antwortete, erzählte er mir alles, was er im Laufe seines Angeltages erlebt hatte. Ich war glücklich …

Schließlich, als mir die Worte ausgegangen waren, verabschiedete er sich: „Also, adje un au revoir.“ Er war neugierig und hatte mich zuvor gefragt, wer ich sei und woher ich käme. Und ich hatte ihm gesagt, ich sei Franzose und bei Kriegsende nach Österreich ins Asyl gegangen. Daraufhin lobte er mein immer noch jugendliches Aussehen und mein akzentfreies Deutsch. Ich gab zurück, dass ich auch sein Französisch erstaunlich fände …

Als die Schatten länger und die Gelsen lästiger wurden, standen plötzlich zwei Überläufer auf dem Weg. Ich hoffte – eingedenk meiner Doppelbüchse – auf beide und war doch mit einem mehr als zufrieden. Der lag wenige Meter in der grünen Wildnis drinnen und war so freundlich, im Zuge seiner kurzen Todesflucht einen schmalen, rot markierten Pfad durchs Springkraut zu treten. 

Gewettet hätte ich vorher, dass nach dem Besuch des Anglers und der mir geschenkten Konversation der Abend gelaufen sei. Daheim hätte ich den Abendansitz wahrscheinlich beendet, wäre heimgeradelt und hätte meinen Frust im Zweigelt ersäuft.

 

Bruno Hespeler