Der König der Berge

 

Einen Steinadler – den König der Berge – in freier Wildbahn zu fotografieren war ein Wunsch, der all die Jahre unerfüllt blieb bis zu dem Moment, als ich einen Jäger in Österreich kennenlernte, der mir glaubhaft versicherte, dass das in seinem Bergrevier möglich sei. 


Von Dieter Hopf

 

 

In Vorarlberg, genauer gesagt im Montafon, beim bekannten Skigebiet Schruns Tschagguns sollte der Traum Wirklichkeit werden. Da dieses Vorhaben, einen Steinadler im Winter am Riss bzw. Fallwild zu fotografieren, nur hoch oben in den Bergen gelingen konnte, suchten der Jäger Willi und ich einen geeigneten Platz dafür. Eine einspurige, für den Allgemeinverkehr gesperrte Schotterstraße schlängelte sich durch den Fichten- und Kiefernwald steil den Berg hinauf. Wenig bzw. falscher Lichteinfall, schlechter Hintergrund u. ä. ließen uns immer höher hinauffahren und endlich, auf etwa 1.600 m Seehöhe wurden wir fündig. Die Straße war in einer scharfen Kurve so ausgebaut worden, dass zwei Autos nebeneinander Platz hatten. Diese Stelle war perfekt geeignet, die aufgehende Sonne im Rücken, im Hintergrund keine störenden Gegenstände, sondern nur weit entfernt die Berge des Montafons. Das einzige Manko an dieser Stelle war die Entfernung zum Adler, sollte einer zum später ausgelegten Köder kommen, denn sie betrug gerade einmal elf Meter. Einen wilden, freien Steinadler auf so kurze Distanz zu fotografieren erforderte eine perfekte Tarnung, ganz viel Sitzfleisch, Ruhe und keine Störung durch Tourengeher oder Bergwanderer.  

 

 

 

Es war vier Wochen vor dem Heiligen Abend, der Schnee ließ auch in den Bergen auf sich warten, als wir das Tarnversteck in der Kehre aufbauten und perfekt mit Fichtenästen verblendeten. Ein ganzer Haufen dichter Äste war dafür notwendig und wurde von Willi von Baumfällungen weiter unten im Tal mit seinem Hänger herangeschafft. Nach einer Stunde Arbeit war das Tarnzelt zu einem dichten Reisighaufen geworden, den keiner mehr (nicht einmal ein Adler) von der Umgebung unterscheiden konnte. Somit war der erste Schritt gemacht. Willi fütterte die Adler mit Aufbruch von erlegtem Rot- und Rehwild regelmäßig vor dem Versteck an und eine Woche später kam der erste Anruf: Dieter, du kannst kommen, die Adler haben das Futter gut angenommen.  Der Adler darf nicht mitbekommen, wenn ich das Tarnversteck aufsuche, ebenso das Verlassen Stunden später, also muss ich das Versteck noch bei völliger Dunkelheit aufsuchen und wieder verlassen. Eine etwa 50 Höhenmeter unterhalb des Verstecks stehende geräumige Kanzel diente mir als Nachtquartier. Am Samstagnachmittag gegen 14 Uhr wurde im Inneren des Verstecks alles für den Fotoansitz am nächsten Tag vorbereitet. Stativ und Kamera mit dem 800-mm-Objektiv wurden installiert und nur das Objektiv lugte ein wenig durch die dichten Fichtenäste. Als alles hergerichtet war, dämmerte es bereits und ich zog mich zur Nachruhe in die Kanzel zurück. Dick eingemummt, denn ohne Heizung schlief ich ganz gut in der geräumigen Kanzel und war am nächsten Morgen noch vor dem Rasseln des Weckers wach. Nach einem leichten Frühstück verließ ich um 6 Uhr die Kanzel und wanderte in stockdunkler Nacht die, nur von einer Taschenlampe erhellte, 250 m lange Serpentinenstraße den Berg hinauf zu meinem Versteck und verkroch mich darin. Und nun begann das Warten. Und um es kurz zu machen, ich verließ das Versteck abends um 18 Uhr wieder, ohne einen Adler gesehen zu haben. Ich hätte einige Kolkraben fotografieren können, die in der Nähe des Luders einfielen, dazu hätte ich aber das Objektiv schwenken müssen. Das unterließ ich aber immer in der Angst, der Adler könnte ja in der Nähe sitzen, diese Bewegung mitbekommen und dem Köder fernbleiben. 

 

 

 

Ein kurzes Abendessen im Hochsitz, und ich verkroch mich wieder in meinen Schlafsack und hoffte auf den nächsten Tag. Die Nacht verlief ruhig und ebenso der Montag. Wieder saß ich bei schönem Wetter, aber ohne Schnee zwölf Stunden im Versteck und es passierte nichts. Ähnlich wie am Tag zuvor ließen sich wiederum nur Kolkraben sehen, die aber auch nicht auf dem Rotwildkadaver landeten, sondern in einiger Entfernung in den Bäumen saßen. Sie schienen keinen rechten Hunger zu haben. Für einen kurzen Augenblick allerdings schnellte der Puls in die Höhe, beruhigte sich aber gleich wieder, als gegen 14 Uhr ein Mäusebussard auf dem Aas landete, einige Brocken Fleisch aus dem Hirsch zerrte und wieder abflog. Am Dienstag saß ich dann bis Mittag vergeblich im Versteck und erst als Willi nach einem Anruf am Versteck, ankam, verließ ich es, baute die Kamera ab und fuhr etwas betrübt die 120 km nach Hause. Willi konnte es nicht fassen, dass kein Adler zum Aas gekommen war, ihm tat es unendlich leid, dass ich nicht zum „Schuss“ gekommen bin. Aber so ist es halt in der Natur ... Es lässt sich nichts erzwingen, hier helfen nur Geduld und Ausdauer. 

  

Meine Sachen habe ich gleich in der Kanzel gelassen und so fand ich nach einem Anruf von Willi am 19. Dezember alles noch so vor wie vor drei Wochen. Schnee war noch keiner in den Bergen gefallen, doch mein Freund versicherte mir, dass in den letzten Tagen mehrere Adler zum ausgelegten Fleisch gekommen waren.  Den Freitagnachmittag verbrachte ich wieder (vergeblich) im Versteck, die Nacht wieder in der Kanzel und den Samstag wieder im Versteck. Noch bei völliger Dunkelheit war ich aufgestiegen, erlebte einen herrlichen Sonnenaufgang in den Vorarlberger Bergen, jedoch änderte sich das Wetter mit jeder Minute und am Nachmittag zog Nebel auf, der sich gegen Abend gerade etwas lichtete. Wie aus dem Nichts landete plötzlich ein Steinadler auf dem Kadaver. Misstrauisch beobachtete er die Umgebung, starrte sekundenlang wie gebannt in das Objektiv und begann dann zu fressen. Erst jetzt wagte ich zu atmen und die ersten Bilder zu machen. Zehn Minuten später war der Spuk vorüber, er war so plötzlich verschwunden wie er gekommen war. Gerade einmal acht Bilder habe ich geschossen und war dennoch glücklich. 

 

 

Bis 18 Uhr geschah nichts mehr, ich verließ mein Versteck, verbrachte die Nacht wieder in der Kanzel und war erstaunt, als am nächsten Morgen Schnee lag. Um 6 Uhr stapfte ich durch 10 cm hohen Pulverschnee zum Versteck hoch, welches ich 15 Minuten später erreichte, und verkroch mich darin. Gegen 8 Uhr färbte die aufgehende Sonne die umliegenden Berge in ein weiches, gelbliches Licht und es versprach ein richtig schöner Wintertag zu werden. Einige Kolkraben saßen wieder in Nähe und „unterhielten“ sich, auf den fast zugeschneiten Hirschüberresten landeten sie aber nicht und ich beherrschte mich, das Objektiv in ihre Richtung zu schwenken. Im Gegensatz zu gestern, als der Kadaver im Dreck lag, wäre es heute eine traumhafte Kulisse, wenn jetzt der Adler kommen würde, so meine Gedanken. Und als ob ein Adler meine Gedanken gelesen hätte, verstummte urplötzlich das Geschwätz der Kolkraben und Sekunden später landete ein Steinadler punktgenau auf den aus dem frischen Pulverschnee herausragenden Fleischteilen. Minutenlang saß er nur da, ganz ruhig, nur der Kopf bewegte sich und mit seinen scharfen Augen fixierte er die Umgebung. Ich zwang mich zur Ruhe, einen wilden Steinadler auf elf Meter Entfernung vor sich beobachten zu können war das Höchste, was ich bisher erleben durfte. Nach einigen Minuten schien ihn der Hunger zu übermannen und er „wanderte“ auf dem Kadaver umher.

 

Und erst jetzt wagte ich es, das erste Bild zu machen. Der Adler, ein stattlicher Altvogel, der Größe nach zu urteilen vermutlich eine Adlerdame, suchte nach einem Ansatz, wo er zu fressen beginnen konnte. Immer wieder lief er auf dem Kadaver auf und ab und ich machte einige Bilder. Und auf einmal und ohne Ansatz erhob er sich und flog davon. Was war geschehen, was veranlasste ihn zur Flucht? Obwohl das Versteck bis auf ein winziges Guckloch hervorragend getarnt war, musste er etwas mitbekommen haben. Eventuell hat das Objektiv gespiegelt oder er hat das vorsichtige Schwenken erspäht, vielleicht hat auch ein Ästchen der Tarnung durch das Gewicht des Schnees gewackelt, ich werde es nie erfahren. In diesen wenigen Minuten, in denen ich dem wilden Adler auf nur elf Meter gegenüber saß, gelangen keine spektakulären, aber dennoch einmalige Aufnahmen und ich bin dankbar dafür und es zeigt sich, dass man mit Geduld, Ausdauer, Ruhe und auch Glück alles erreichen kann. Mein besonderer Dank gilt natürlich Willi, dem Jäger aus den Bergen, denn ohne seine Hilfe wären diese Bilder nicht möglich gewesen.