Gemma Tiere schaun!
Nationalparks und die unberührte Natur steigen in ihrer Beliebtheit. Die Suche nach Wildnis nimmt in unserer durch Technik dominierten Zeit immer mehr zu. Am liebsten aber doch da, wo die anderen sind, und nicht unmittelbar vor der eigenen Haustür.
Jeden Sommer besuchen weit über 100.000 Besucher den Schweizerischen Nationalpark. Auf den ersten Blick scheint er für Besucher völlig unattraktiv. Er kann nur auf den rund 80 km Wanderwegen begangen werden. Diese entsprechen dem Standard der Bergwanderwege. Sie sind schmal angelegt und zum Teil auch recht steil. Die körperliche Verfassung muss gut sein, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit sind nötig. Eine der Witterung angepasste Ausrüstung wird vorausgesetzt. Hunde dürfen nicht mitgenommen werden und das Wegegebot wird strikt kontrolliert. Trotzdem ist die Anziehungskraft so groß, dass der Nationalpark ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor in der Region ist, der jedes Jahr über 20 Millionen Schweizer Franken (rund 18 Mio. Euro) an Wertschöpfung generiert, obwohl er nur im Sommer begehbar ist. Es finden keine weiteren menschlichen Interventionen statt, das heißt auch keine Jagd und keine Forstwirtschaft. Aus diesem Grund fühlen sich die großen Säugetiere sicher und können auch tagsüber bei ihren normalen Verhaltensweisen beobachtet werden. Rotwild hält sich bevorzugt auf den Weiden auf und wird in großen Rudeln angetroffen.
Wandern und staunen
Eine Besucherbefragung ist der Motivation für den Nationalparkbesuch auf den Grund gegangen. Es ist klar, dass praktisch alle Befragten eine Wanderung machen wollen. Weiter sind die Erwartung, Wildtiere zu beobachten, die unberührte Landschaft und Pflanzen in dieser Reihenfolge die weiteren Gründe. Diese sind auch nicht über den ganzen Sommer gleich. Es erstaunt nicht, dass im Frühjahr die Pflanzenwelt mehr lockt und im Herbst die unberührte Landschaft vermehrt gesucht wird. Eine große Attraktion ist über die ganze Saison die Tierwelt, die während der Hirschbrunft ihren Höhenpunkt hat. Die Suche nach einer unberührten Landschaft nimmt über die Jahre zu und zeigt, dass „wilderness experience“ vermehrt gesucht wird.
Für drei Viertel der Befragten war die Tierwelt der Bewegrund, den Nationalpark zu besuchen. Dies deckt sich mit Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten, auch hier ist das „Wildtiere-Beobachten“ eine der populärsten Outdoortätigkeiten. Bei den Tieren stehen die Rothirsche zuoberst auf der Beliebtheitsliste. Es folgen die Steinböcke und erst an dritter Stelle befinden sich die putzigen Murmeltiere. Obwohl die Gams ein Symbol für den Alpenraum ist, liegt sie wie die wiederangesiedelten Bartgeier abgeschlagen auf den Rängen. Der Rothirsch ist eine emotionale, symbolträchtige Art und für den Durchschnittsnaturfreund nicht einfach zu beobachten. Die Brunft ist ein optisches und akustisches Erlebnis. Während die Gams früher, vergleichbar mit dem Edelweiß, ein Symbol für die „wilde Alpenwelt“ war, deren Lebensweise nur Unerschrockene kannten, hat ihr der Rothirsch mittlerweile den Rang abgelaufen. Ihm haftet eine göttliche Symbolik an, die auch dem Jäger bekannt ist: Hubertus wurde von einem Hirsch bekehrt. Auch die ewigen Diskussionen, ob im Winter gefüttert werden soll oder nicht, drehen sich hauptsächlich um diese Art.
Suche nach der Natur
Interessanterweise brachte die Untersuchung zutage, dass die Besucher auch zuhause im Alltag ähnliche Erwartungen haben. So wertet die Beobachtung von wilden Tieren andere Freizeitbeschäftigungen auf. Beim Joggen noch Rehe antreffen ist interessanter als nur joggen. Auch die Suche nach Natur, was auch immer man darunter vestehen kann und will, wird immer mehr zu einem wichtigen Faktor. Tiere spielen bei der Vermittlung von Natur-erlebnissen eine große Rolle, wie eine Studie an Schulklassen beim Besuch des Nationalparks gezeigt hat.
Dass Tiere in der Kommunikation eine wichtige Rolle spielen, erfahren Hundehalter regelmäßig. Ein Tier, auch ein Haustier, weckt Emotionen. Es kommen Gespräche mit Leuten zustande, mit denen man sonst nie ein Wort wechseln würde. Symbolträchtige Tiere wecken Gefühle, der Mensch interessiert sich für ihr Schicksal. Gute Beispiele dafür sind der junge Eisbär Knut oder die Folgen der Klimaerwärmung für einzelne Eisbären in der Polarregion. Die Ausbreitung der Wölfe in Mitteleuropa erweckt das Gefühl, Wildnis in unmittelbarer Nähe zu haben. Die Suche nach Wildnis nimmt in unserer durch Technik dominierten Zeit immer mehr zu. Am liebsten aber doch da, wo die anderen sind, und nicht unmittelbar vor der eigenen Haustür.
Jagd trübt Bild der heilen Natur
In diesem Spannungsfeld bewegen auch wir Jäger uns. Auf der Jagd suchen wir das Wilde, genießen die Landschaft und die Tiere. Trotzdem üben wir auch eine regulierende Funktion aus, die im Gegensatz dazu steht. Wir suchen die Herausforderung, ein Tier zu überlisten, nutzen aber gerne dazu alle möglichen technischen Hilfsmittel. Bei all unseren Bestrebungen stehen wir selbst im Mittelpunkt und vergessen uns zu fragen, wie die nicht jagende Bevölkerung uns und unser Handeln sieht und bewertet. Jagdliche Einrichtungen bilden vielfach einen Gegensatz zu den Erwartungen der Gesellschaft an eine wilde Natur. Im Rahmen einer Untersuchung zum Verhalten von Gästen in der winterlichen Landschaft in unmittelbarer Nähe zum Nationalpark waren die Ansitzeinrichtungen ein Stein des Anstoßes. Sie trüben bei Nichtjägern das Gefühl der unberührten Natur. Auch wenn die Jagd uns eine Flucht vor dem Alltag bietet, sollten wir versuchen, unser Verhalten aus einer übergeordneten Warte zu sehen und uns zu hinterfragen. Dies in der unmittelbaren Ausübung der Jagd, aber auch in Diskussionen über den Umgang mit wilden oder nicht mehr so wilden Tieren.
Flurin Filli