Anpassen, abwandern oder aussterben?
Wie reagieren Wildtiere auf menschliche Aktionen? Wie gehen sie mit der räumlich und zeitlich stark steigenden menschlichen Präsenz um? In der neuen Serie geht es nicht darum, die Interessen der Wildtiere über alle menschlichen Aktivitäten zu stellen. Aber in unseren Kulturlandschaften ist alles so stark miteinander verzahnt, dass jeder mit den anderen auskommen muss. Und das geht leichter, wenn man die Interessen und Bedürfnisse der anderen genauer kennt und diese vermitteln kann.
Von Veronika Grünschachner-Berger
Wie gehen Wildtiere mit uns Menschen um?
So paradiesisch könnte es sein, hätten Wildtiere keine Furcht vor uns Menschen. Keines müsste flüchten oder ausweichen, wir könnten uns den Lebensraum teilen. So ist es leider nicht, die Wildtiere spielen nicht mit. Aber warum?
Praktisch alle Wildtiere haben uns als Feindbild genetisch verankert. Bei einigen Arten, die wir bejagen, ist diese Furcht vor dem Menschen ja berechtigt. Läuft ein Gams nicht weg oder versteckt sich, ist er vielleicht tot. Aber warum bleibt er trotzdem manchmal stehen? Und warum sehen uns auch viele andere, nicht verfolgte Arten wie Eulen, Spechte, Schneehasen … als Feinde an? Das große Themenfeld der „Störungsbiologie“ entstand erst um 1990. Einige deutsche und Schweizer Wissenschaftler versuchten eine erste Begriffsdefinition und Kategorisierung. Seither hat sich viel getan, eine Menge neuer Untersuchungen geben Einblick, warum sich Wildtiere uns Menschen gegenüber so oder so verhalten. Ein Überblick über die Auswirkungen menschlicher Störreize soll hier anhand eines Gamsbocks, der durch den Winter kommen muss, durchgespielt werden.
Winterstrategie eines x-beliebigen Gamsbockes
Der für den Bock im Winter nutzbare Lebensraum ist auch schon ohne Menschen wesentlich kleiner als im Sommer. Auf nur wenigen Stellen liegen Äsung, Deckung und Witterungsschutz auf möglichst kleiner Fläche beisammen. Nur hier kann der Gamsbock seine Winterstrategie, die „Strategie der kurzen Wege“, einsetzen: Möglichst kurze Distanzen zwischen den lebensnotwendigen Flächen sparen viel Energie. Nun erscheint aber ein Mensch auf der Bildfläche. Er zieht in großen Serpentinen über der Waldgrenze Richtung Gipfel: ein Störreiz, der „nicht zur normalen Umwelt gehört“ (Tischler, 1983), der „Faktoren-Komplexe mit reversiblen oder irreversiblen Veränderungen“ auslöst, im allgemeinen Sprachgebrach „Stress“ genannt (Grimm, 1989). Der Gams unterbricht nun seine bisherige Tätigkeit, beobachtet und versucht, die Lage einzuschätzen. Im Folgenden wird nun die Reaktionskette des Bocks beschrieben. Können seine Reaktionen auf einer Ebene die Störursachen nicht abfangen, so wird die jeweils nächste Reaktionsstufe aktuell. Die Auswirkungen werden immer drastischer.
1.) Erregung
Auch wenn man von außen nicht viel sieht, der Bock muss nun überlegen, ob eine Flucht notwendig werden könnte. Der Körper fährt sicherheitshalber sein Alarmsystem hinauf, erhöhte Fluchtbereitschaft ist angesagt. Dies hat eine ganze Kette innerer Reaktionen zur Folge: Erhöhte Herzfrequenz, über das Gehirn werden diverse Drüsen angeregt, diverse Hormone (Cortisol) werden ausgeschüttet, der Adrenalinspiegel wird erhöht und vieles mehr. Schon diese internen Vorgänge brauchen Energie. Verschwindet der Tourengeher bald wieder, kann der Bock wieder zur Ruhe kommen. Aber wenn der Zauber länger andauert und über den ganzen Tag verteilt weitere Menschen nachkommen? Anhaltende Stresssituationen erschöpfen den Organismus, können letztendlich auch bis zum Tod führen. Nicht gesund. Umgekehrt wäre es für den Bock vorteilhaft, wenn er diese Reaktionen „abfangen“ kann. Vielleicht weiß er, dass er nicht flüchten muss, weil die Tourengeher immer vor seinem Hang links abbiegen. Er muss lernen, diese Leute als „ungefährlich“ einzuschätzen, weil sie immer die gleichen vorhersehbaren Verhaltensweisen zeigen. Eine derartige Gewöhnung braucht viele Voraussetzungen. Sie soll einmal in einem gesonderten Beitrag behandelt werden.
2.) Verhaltensänderung:
Meideverhalten Der Tourengeher kommt nun weiter auf unseren Gamsbock zu. Es wird ernst, der Bock muss handeln. Er muss jetzt sein Verhalten ändern, um der Gefahr zu entgehen. Flucht ist nun angebracht. Wie viel Energie das im Winter kostet, muss nicht näher erläutert werden. Der Grundumsatz wird bis zum Zehnfachen gesteigert. Einmal zu flüchten ist meist noch überlebbar. Wiederholte Fluchten können aber das Energieniveau leicht negativ werden lassen. Stirbt der Bock wegen vieler Fluchten an Erschöpfung, war seine Verhaltensänderung nicht ausreichend, um dem Einfluss zu entkommen. Da wären andere Verhaltensweisen angebrachter. So könnte er räumlich oder zeitlich ausweichen. Er könnte sich in einen anderen Lebensraum überstellen oder die Gefahrenzone nur mehr in der Nacht betreten. Diese zeitliche Umstellung der Lebensraumnutzung ist der „Klassiker“ der Reaktionen bei Rotwild, wie Paul Griesberger im ANBLICK vom August 2020 anschaulich zeigte.
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