Rehböcke lügen nicht

 

Die Jagd auf einen Rehbock in fremden Kulturen und fernen Jagdgründen lässt sich gut mit einem Familienurlaub verbinden. Sehr empfehlenswert ist hier Südengland, das bestaunenswerte Landschaften, beeindruckende Architektur und manch Kapitalen vorrätig hat.


Von Gerhard Vasold

 

 

Als fürsorglicher, liebender Ehemann sehe ich es als meine oberste Pflicht, meiner Frau alle Wünsche zu erfüllen – am besten noch bevor sie sie ausgesprochen hat. So auch als sie so nebenbei erwähnte, einmal den Süden Englands bereisen zu wollen, jene Landschaft also, die als Kulisse für Filme herhalten muss, bei denen man besser einen Schmalztopf unter den Fernseher stellen sollte. Mein Interesse war jedenfalls geweckt, oh nein, das hatte gar nichts damit zu tun, dass es dort zufällig ideale Bedingungen zur Pirschjagd auf starke Rehböcke gab. Ein Schelm, der so was denkt.

Mein offenbar zu rasch gezeigtes Interesse an den Landschaftsgärten der Tudors und den wunderbaren alten Herrenhäusern der Windsors machte meine Frau sofort stutzig. Was würde ich geben, nur annähernd so ein Gespür fürs Wild zu haben wie meine Frau für die Lügen ihres Mannes ...

Von Globus-Jagdreisen bestens organisiert, erreichen wir zwei von Wien nach ruhigem Flug den Airport von Birmingham, der wegen seiner Kleinheit und Übersichtlichkeit ein idealer Ausgangspunkt für den Süden der Britischen Insel ist. Zum Leihauto sind es gerade mal 300 Meter vom Exit, das Hotel für die erste Nacht liegt auf der anderen Straßenseite. Am nächsten Morgen geht es vorerst auf breiter Autobahn dahin, bis die Straßen nach jeder Abbiegung schmäler werden, schließlich nur mehr einspurige, von Hecken und Steinmauern begrenzte Korridore übrig bleiben. Warum man bei so viel Gegend derart schmale Asphaltstreifen in die Landschaft klebt, bleibt ein Rätsel.

Nach oftmaligem Zurücksetzen und knappesten Ausweichmanövern erreichen wir das urige Gasthaus „Coppleridge Inn“ in der Grafschaft Dorset nahe Shaftesbury, das englischer nicht sein könnte.

Derek, ein Profi seines Faches, bejagt hier als Professional Hunter gut 20.000 ha. Auch er profitiert davon, dass dank der trophäenorientierten Kontinentaljäger aus dem noch vor wenigen Jahrzehnten als Schädling bekämpften Rehwild ein akzeptiertes Jagdwild wurde. Für einheimische Jäger steht immer noch ganz klar das Niederwild an erster Stelle, wie man unschwer an der Gestaltung der Lebensräume erkennen kann. Man findet kaum harte Übergänge von Wald zu Feld, dazwischen liegt immer eine „Pufferzone“ in Form einer Brachfläche, die auffällig gerne vom Wild angenommen wird.

 

Kommen die meisten Jagdgäste im April, zum Aufgang der Bockjagd, war dies für mich keine Option. „Ma schiaßt koan grauen Bock und ka rote Goaß“, meinte schon mein Onkel Ferdinand. Der Termin im Juni wurde vorerst skeptisch gesehen, stellt sich aber bald als guter Zeitpunkt heraus, es wurde mehrere Wochen schon praktisch nicht mehr gejagt, das Rehwild zeigt sich bis in den späten Vormittag erstaunlich vertraut.

Sind die Böcke schon im Wildbret deutlich stärker als ihre österreichische Verwandtschaft, so sind es proportional dazu auch die Krickeln. Geringer Jagddruck, auf 200 ha wird gerade einmal ein Bock erlegt, es gibt üppigste Nahrung durch eine kleinstrukturierte, extensive Landwirtschaft, hektarweise Brachflächen, kilometerlange Hecken, die als Deckung dienen, sowie ein milder Winter machen diese Landschaft zum Paradies der Rehe. Trotz dieser guten Bedingungen sehen wir auch Jahrlinge mit bescheidenen Spießchen. Aber die Engländer haben eine geniale Methode, dass sich auch aus solchen Knaben stolze Herren entwickeln – sie lassen sie alt werden!

Der erste Jagdabend, besser gesagt die Anfahrt, gibt einen traurigen, aber aufschlussreichen Einblick in die Diversität der Tierwelt. Unzählbar viele Tiere „killed by the street“, vom Igel über Eulen bis zur Möwe, vom Rebhuhn über Dachse bis zu den Rehen, säumen die Straßenränder und bereiten so ein reiches Buffet für den Fuchs, der dabei dann selbst unter die Räder kommt.

2. Jagdtag, morgens um 4 Uhr. Unsere Pirsch, was sonst, die Ansitzjagd ist hier unbekannt, beginnt bei einem herrschaftlichen Landsitz, an einem Flüsschen gelegen, mit mächtigen Eichen und stillen Teichen, eingebettet zwischen den typischen südenglischen Hügeln. Es dauert nicht lange, und schon tauchen die ersten Häupter von Geißen und Kitzen aus den Getreidefeldern auf.

 

 

 

Bald erkennen wir von Weitem einen passablen Bock, prüfen den Wind und pirschen ihn auf einem Hohlweg, optimal beidseitig von Hecken begrenzt, bis auf gut 100 Meter an. Derek stellt das Dreibein auf und das Glück nimmt seinen Lauf. Da ich zuhause auch eine Blaser führe, haben wir auf den Probeschuss mit der Leihwaffe verzichtet, was sich nun rächen sollte. Dereks R 93 hat einen deutlich stärkeren Druckpunkt, dazu mit aufmontiertem Zweibein und Schalldämpfer ein ordentliches Stück Waffe, das sich nur knapp hinter dem Abzug auf das Dreibein auflegen lässt. Einen Hochschuss erahnend, halte ich etwas tiefer an und überschieße trotzdem, worauf der Bock langsam, aber dennoch zum Glück eindeutig gesund vor uns über den Weg setzt und schimpfend im nahen Wald verschwindet. Dass dies nicht nur für ihn, sondern auch für mich ein Glück ist, soll sich noch herausstellen. Die Enttäuschung ist ein wesentlicher Bestandteil der Jagd, ja sogar ein notwendiger und unentbehrlicher Teil, denn sie nimmt uns die Überheblichkeit und macht das Gelingen erst so wertvoll.

 

Am Rückweg entdecken wir im hohen Gras nahe am Waldrand ein Gehörn. „Very old“, meint Derek und soll recht behalten. Dreibein aufstellen, Gewehr drauf und warten, warten, warten – geschlagene 35 Minuten lang im Anschlag. Aber erst als die Morgensonne sein Haupt beleuchtet, erhebt sich der alte Platzbock, um sich gleich wieder, diesmal für immer, niederzutun.

8 bis 10 Jahre, mächtige Rosen, die Stangen im unteren Bereich wie zu einer verschmolzen. Mit einem solchen Morgenerlebnis ist es ein Einfaches, tagsüber auf den Wegen und Plätzen von Rosamundes Liebesdramen zu wandeln, und weil man nirgends unentdeckt bleibt, haut mir vor der Kathedrale von Salisbury Gerhard, ein Liezener Jagdhornbläser, auf die Schulter.

Nachmittags begleitet uns auch meine Frau Helga zur Jagd „to the middle of nowhere“ in die Salisbury Plain. Tausende Hektar, mittendrin ein einziger Bauer, alles andere „Lebensraum – Wildtiertraum“. Wir genießen den Anblick des vertrauten Wildes vom Rebhuhn bis zum Damwild, als auch noch ein Dachs ungeniert am hellen Tag ein Feld überquert. Wir lassen ihn ziehen, empfehlen ihm aber, etwas vorsichtiger zu werden, für seine Schwarte zahlt der Staat eine Prämie, weil Familie Schmalzmann sich so mächtig reproduziert und die damit notwendig werdenden Neubauten nicht jeden Grundbesitzer begeistern.

 

Der nächste Morgen schenkt uns großartigen Anblick, darunter ein Bock, der uns aufgrund seiner Körpergröße schon von Weitem auffällt. Die Einsamkeit der Revierteile und der geringe Jagddruck halten die Fluchtdistanzen erstaunlich gering, so pirschen wir uns ungedeckt, aber längst entdeckt bis auf 150 Meter heran. Der erste Blick durchs Zielfernrohr lässt mich mehr als staunen. Ist die linke Stange normal gebildet, so teilt sich die rechte gleich oberhalb der Rose in zwei mächtige Spieße.    

„Brieftasche an Kleinhirn: Befehl – nicht schießen!“ „Kleinhirn an Brieftasche: Befehl abgelehnt!“

Ich bin kein sentimentaler Mensch, aber dieses Bild des erlegten Bockes im taunassen Gras des südenglischen Hügellandes in der sanften Morgensonne, das bleibt. Kein Wunder, denke ich, dass es so viele Maler in diese Gegend zog und immer noch zieht. Impressionen, die beeindrucken.

Auf der Heimfahrt meint Derek, dass er das „Gwichtl“ auf 600 Gramm schätzt, in mein erstauntes Gesicht blickend aber gleich ergänzt, dass ja für die Berechnung noch 90 Gramm fürs Oberkiefer abgezogen werden. Aber einerseits hat er sich zum Glück doch etwas verschätzt, andererseits sind die Abschussgebühren, ver­glichen mit anderen Ländern, hier ohnedies deutlich geringer.

 

Wer eine entspannte Jagdreise in Begleitung seiner liebsten Gattin plant, mit kurzen Flugzeiten, ohne unnötigen Waffentransport, mit moderaten Gebühren, eine faire und schnörkellose Jagd mit dem Erlebnis einer artenreichen Tierwelt, dem sei dieses Land empfohlen. Tagsüber, in der jagdfreien Zeit, bieten die altehrwürdigen Dörfer und Städte mit ihren Kathedralen und Landschaftsgärten einen eindrucksvollen Zeitvertreib: gefällt auch Männern – versprochen! Und da soll noch einer sagen, Jagern sei kein familienfreundliches Hobby.