„’S Mul halte“

 

Erst als wir uns dem Hahn auf kaum mehr als 50 Meter genähert hatten, hörte ich ihn auch. Aber schweigen sollte ich über den kleinen Restbestand an Auerwild, den mein Gastgeber als Waldbesitzer und Jagdrechtsinhaber der Welt samt ihrer Wissenschaft verschwieg ...

 

von Bruno Hespeler

 

 

Mein Gastgeber meinte, ’s Mul soll ich halten (deutsch: das Maul). Das klingt derb, ja fast beleidigend, ist aber im Alemannischen eher vertraulich gemeint. Der Satz kann den damit Bedachten ins Vertrauen ziehen, kann signalisieren, dass man ihm vertraut. Schweigen sollte ich über den kleinen Restbestand an Auerwild, den mein Gastgeber als Waldbesitzer und Jagdrechtsinhaber der Welt samt ihrer Wissenschaft verschwieg. Er und schon sein Vater mussten sich im Laufe der Jahre so viele Empfehlungen wie mehr oder weniger deutliche Ermahnungen anhören, dass er das Schweigen über gewisse Dinge der Veröffentlichung vorzog.

 

Als er der Pflanzung weitgehend reiner Fichtenbestände abschwor, erntete er Kopfschütteln. Als die Jungbauern in der Landwirtschaftsschule lernten, die Tanne sei minderwertig und schwer verkäuflich, begann er sie zu schützen. Und als Bergahorn & Co. noch gnadenlos ins Brennholz geschnitten wurden, begann er diese als wertvolle Zukunftsbäume zu fördern und zu pflegen. Als er mich das erste Mal anrief, fiel beiläufig auch das Wort Auerwild.

 

Nun war ich für drei Tage Gast auf seinem Hof, durfte mir den Wald anschauen und zwei Morgen in der Früh mit ihm auf den Hahn gehen. Die Raufußhühner sind im Schwarzwald seit rund einem halben Jahrhundert tabu, ebenso wie die Murmel im schmalen bayerischen Alpenstreif. Dennoch ging es mit dem Symbolvogel des schwarzen Waldes kontinuierlich bergab. Wildbiologen forschten. Unis schickten Studenten und Doktoranden. Forstleute erstellten Konzepte für einen wieder etwas auerwildfreundlicheren Wald. Auch die Jagd meldete sich, vor allem mit dem Uraltrezept der Beutegreiferregulation, später umbenannt in Prädatorenmanagement, ein Rezept, das alle anderen in ihre eigenen Vorschläge mit einbauten.

 

Noch war finstere Nacht. Alles still, nur ab und zu ein sanftes, kaum wahrnehmbares Seufzen in den Kronen. Georg – wir waren rasch beim vertraulicheren Du – hatte mir die Situation, noch im Auto sitzend, erklärt. Wir wollten keinen Hahn anspringen, allenfalls in seine Nähe kommen. Die Strategie war, früh in der Nähe der drei bekannten Balzplätze zu sein, noch eine Viertelstunde im Auto zu verharren und dann möglichst geräuschlos auszusteigen. Was folgte, war eine Stehpirsch am Rande der begrünten Forststraßen. Eigentlich war es mehr ein Stehenbleiben mit gelegentlich eingefügten Schritten.

 

Erste Ahnung vom Beginn der Dämmerung. Erstes Perlen des Rotkehlchens, zaghafter Ansatz der Singdrossel, immer wieder einzelne Tropfen aus dem Gewipfel. Langsam bewegten wir uns weiter – Schritt für Schritt, Pause um Pause. Irgendwann Georgs vorsichtig nach hinten gestreckte Hand: Bleib stehen!

 

Behutsam deutete er mit dem Kopf in den Bestand. Ich hörte nichts – nichts als meinen nun voll auflaufenden Tinnitus, Ergebnis unzähliger Schüsse ohne jeden Gehörschutz. Früher ganz normal gewesen … Tiefe Frequenzen höre ich noch ganz gut, hohe kaum noch. Der Zilpzalp existiert für meine Ohren überhaupt nicht mehr, andere Arten nur noch eingeschränkt. Das Lied des Hahns ist zwar keineswegs hochfrequent, dafür aber leise und sein Klepfen vermischt sich oft mit dem frühmorgendlichen Getropfe oder mit dem Lied sickernder und rinnender Wasser.

 

Irgendwo unter uns, so zwischen hundert und einhundertfünfzig Meter entfernt, singe ein Hahn, meinte Georg. Ohne mich hätte er auf der Forststraße gewartet, bis der Hahn zur Bodenbalz abgeritten wäre. An diesem Morgen wollte er mir eine Freude machen. Und so sprangen – „stehpirschten“ – wir den Hahn an. Erst als wir uns ihm auf kaum mehr als 50 Meter genähert hatten und ihn bereits auf einem ausladenden Tannenast trippeln sahen, hörte ich ihn auch. Depression über den eigenen körperlichen Abstieg mischte sich mit Freude, doch noch einmal einen Hahn gehört zu haben.

 

Weiter wollten wir nicht. Ich setzte mich auf einen Sandsteinblock. Georg lehnte an einer seiner Alttannen. Ganz, ganz langsam und vorsichtig ging er mit seinem Stecken in Anschlag, kniff die Augen zusammen und ruckte – wie im Schuss – mit dem Kopf. Wir tauschten ein Lächeln aus. Er war zufrieden, weil er mir einen seiner wenigen Hahnen hatte zeigen können. Ich war glücklich, weil mir das Leben noch einmal einen solchen Morgen geschenkt hatte.

 

Den Hahn hielt es lange auf seinem Ast. Es wurde heller Morgen und der Buchfink – ein Spätaufsteher – schlug bereits, als sich der Hahn mit Gepolter von seinem Ast schwang und mit ausgebreiteten Schwingen schräg den Hang hinabsegelte.

 

Zufrieden stiegen wir wieder zum Weg hinauf. Eine Revierfahrt schloss sich an. Der Plenterbetrieb sorgte immer wieder für Lücken in der Naturverjüngung. Die bei der Fällung anfallenden Äste wurden auf Haufen getragen, eine Maßnahme, die ich von friulanischen Wäldern kannte. Sie diente dem Auerwild, das laufen will und mit der geschlossenen, lückenlosen Verjüngung wenig anfangen kann. Das Zeitalter der Zäune hatte Georg überwunden. Dort, wo sie besonders gefährdet waren, wurden Jungtannen gestrichen, aber das war eher die Ausnahme. Noch gab es genug alte Föhren in den Beständen, von deren Knospen sich die verbliebenen Auerhühner im Winter ernährten. Auf dem Boden wucherten Schwarzbeere und Heidekraut – saure Sandböden! Bei der Heimfahrt purrte oberhalb des Hofes ein Haselhahn vor uns auf.

 

Georg musste in den Stall, seiner Frau helfen, die Rinder zu versorgen. Ich machte es mir, Morgensonne genießend, auf der Bank beim alten, etwas abseits stehenden Backofen bequem. Müdigkeit schloss die Augen. Braunschwarzer Wälderdackel kuschelte sich freundlich an meiner Seite. Manchmal, wenn das Kreuz wehtat, ein kurzes Erwachen. Hausrotschwanz – aus dem Süden zurück – schimpfte aus dem Kirschbaum auf uns herab. Zitronenfalter, die dank körpereigener Frostschutzanlage den Winter überlebt hatten, umgaukelten uns. In den zahlreichen noch immer den alten Hof umstehenden Obstbäumen wuchsen prachtvolle Misteln.

 

Ich saß, dämmerte vor mich hin und träumte einen meiner uralten, lange verschollenen und nun wieder ausgegrabenen Kinderträume. Damals war der Auerhahn im Schwarzwald allgegenwärtig. Er war Namensgeber für zahllose Gasthäuser, für Apotheken und selbst Handwerksbetriebe und er war im großen, schwarzen Wald noch weit verbreitet. Kein Gedanke, dass ihm das lokale Aussterben bevorstand. Und damals ganz klar: Ich würde im Schwarzwald und sonst nirgends Förster werden. Wie das Auerwild, so starben auch meine Kinderträume.

 

Es gab noch einen zweiten Hahnenmorgen mit sogar zwei angegangenen Hahnen, und es gab eine Einladung zum Rehjagern im Herbst mit dem schwarzbraunen Wälderdackel. Gerne, verdammt gerne nahm ich sie an. Das Jagen dort ist ein anderes als in der neuen Heimat, ein viel freieres, eines, das sich vielerorts im Waldbild spiegelt. Um ein paar Rehe mehr muss hier keiner streiten. Aber dann führte mich der Herbst in andere, entferntere Wälder und im Folgejahr gab die Weltenbühne „Die große Panik“ und war für lange, lange Zeit ausverkauft ...

 

„Kum halt eifach, musch nur ’s Mul halte!“

Es gibt wieder einen Kindertraum, einen reduzierten …