Ehe sie faul werden ...
Die Jagd auf den Rehbock im Sommer kann in manchen Jahren sehr mühsam werden. Insbesondere im Flachland steht die Vegetation hoch und die Aktivität beim Rehwild sinkt. Geißen stehen bei ihren Kitzen, die Böcke haben ihre Revierstreitigkeiten beigelegt, beginnen mit der Feistzeit. Wer sein Revier kennt und weiß, wo territoriale Böcke stehen, kann mit etwas Geduld aber auch im Juni erfolgreich sein.
Von Wildmeister Matthias Meyer
Es ist noch dunkel draußen, als mich der Wecker nach einer viel zu kurzen Nacht gegen drei Uhr weckt. Doch der Weizen wird langsam für die Sauen interessant. In den letzten Tagen kam immer wieder einer der unvorsichtigen Überläufer zur Strecke, wenn sie sich auf dem Rückwechsel allzu vertraut in der Zeit vertun. Der Großteil des notwendigen Frühjahrsabschusses beim einjährigen Rehwild ist erledigt. Die Böcke sind nun weitestgehend rot und schauen nach Rehbock aus. Mit dem einen oder anderen mehrjährigen Abschussbock liebäugle ich insgeheim, wenngleich die Aussichten auf jagdlichen Erfolg beim Rehwild ab Mitte Juni zusehends schwinden. Im Feld überwiegt die hohe Deckung der heranreifenden landwirtschaftlichen Früchte, auch einige Mähwiesen sind so hoch, dass das Reh kaum herausschaut. Im Waldrevier strotzt flächig die Naturverjüngung in den Beständen, so dass man den Eindruck hat, nur noch gegen eine grüne Wand zu schauen, wenn man die Forstwege entlangpirscht.
Wenig Bewegung
Die Pirsch ist jetzt im Juni eigentlich auch die verkehrte Jagdart. Die Morgendämmerung sieht den Rehbock meist noch ruhend im Lager. Wildbewegung findet kaum statt. Doch gerade sie ist für die Pirsch absolut notwendig – und vor allem genug Sichtfeld, um das Wild rechtzeitig zu sehen. Doch auch damit sieht es Mitte Juni eher schlecht aus. Daher sind die Chancen noch ungleicher verteilt und die Gefahr, das Wild frühzeitig zu vergrämen, ist um diese Zeit so ziemlich am höchsten. Das Rehwild ist in ungestörten Revieren ein Spätaufsteher. Insbesondere dort, wo auch der Jagddruck seit Jahren auf die wenigen wirklich effektiven Intervalle angepasst ist, kommt meist erst eine Stunde nach Sonnenaufgang, wenn die Temperaturen merklich steigen, Bewegung ins Rehwild. Doch in der üppigen Vegetation dreht sich das Reh dreimal auf der Stelle im Kreis und ist satt.
An Äsungsrhythmus anpassen
Wer sein Revier kennt und eine Ahnung von den Rehbockeinständen bekommt, wird nun deutlich mehr Erfolg haben, wenn er sich an den vom Rehbock bevorzugten Ecken in seinem Einstand ungestört ansetzt. Diese Plätze sollten von einer Leiter oder einem Hochsitz genügend Einblick gewähren und über gepflegte Pirschwege bequem zu erreichen sein. Der Tagesablauf eines Rehbocks sieht im Juni nicht sehr viel mehr als Äsen und Ruhen vor. Hin und wieder wird er an den Reviergrenzen nach dem Rechten sehen. Auseinandersetzungen mit anderen Rehböcken gibt es um diese Zeit häufig nicht mehr, da die Grenzen bereits fest abgesteckt sind. Wollen wir einen bestimmten territorialen Rehbock jagen, gehen wir an die Stellen mit der vielfältigsten Äsung, suchen uns bei sommerlichen Temperaturen schattige und kühle Orte möglichst mit frischem Wasser aus, wo wir auf den Bock warten. Er wird sicherlich dort am ehesten anzutreffen sein, denn er muss sich an seinen Äsungsrhythmus halten. Kleine Blößen mit entsprechendem Angebot an frischen Trieben, jungen Blättern von Brom- und Himbeere, von Waldweidenröschen und unterschiedlichen Kräutern ziehen den Bock zum Verweilen an. Vielleicht gibt es im oder am Rande des Bockeinstands auch Möglichkeiten, mit wenig Aufwand kleine Äsungsflächen mit Leguminosen und Klee-Kräuter-Gemischen anzulegen. Immer wieder kann man beim Ausloten der Ansitzmöglichkeiten frische Schlag- und Plätzstellen entdecken, die der Bock noch lange nach dem eigentlichen Fegen regelmäßig aufsucht, um hier zu markieren.
Wetterumschwung ausnutzen
Besonders hoch stehen unsere Chancen nach einem heftigen Gewitter oder einem Landregen, wenn es aufhört zu regnen und sich die Sonne zeigt. Jetzt zieht der Bock aus dem tropfnassen Einstand, schüttelt sich das Wasser aus der Decke und lässt sich von den Sonnenstrahlen trocknen. Aber auch während eines warmen Sommerregens ist das Rehwild jetzt tagsüber gern auf den Läufen, denn es fühlt sich ungestört. Wir sollten bereits beim Regen den Sitz beziehen, denn wenn es aufhört, ist das Wild meist gleichzeitig draußen. Es kann dann unter Umständen schwer werden, den Sitz unbemerkt zu erreichen.
Verlagerung der Einstände
Gehören zum Einstandsbereich des Rehbocks auch Getreideflächen, stellt er sich im Sommer häufig komplett ins Feld um, wenn im Wald die Stechmücken, Bremsen und andere Plagegeister zu unangenehm werden. Im freien Feld sind sie durch den ständig wehenden Wind und die fehlende Feuchtigkeit meist nicht so stark vertreten. Zudem bieten die nun gut hüfthohen Getreide- und Rapsfelder ganztägig Ruhe, denn Spaziergänger meiden sie und bewegen sich für das Wild als berechenbare Störung ausschließlich auf den Wegen. Vom Rehwild sind, wenn überhaupt, nur die Lauscherspitzen oder das Gehörn kurzfristig zu sehen. Der Schuss auf einen Rehbock ist nur in einer Fahrgasse oder am Feldrand möglich. Allerdings lässt es sich schwer berechnen, wo es der Fall sein wird, dass der Bock austritt. Ein Zusammentreffen mit einem gesuchten Rehbock bleibt ab Mitte Juni stets eine jagdliche Überraschung. Etwas anders sieht die Lage im Gebirge aus.
Später Frühling im Bergrevier
Gerade in diesem Jahr dauerte der Winter lange. Immer wieder kam der Niederschlag in den höheren Lagen als Schnee und verzögerte die Entwicklung der Vegetation. So ist das Rehwild in den höheren Lagen im Juni häufig so aktiv wie im April und Mai in den Revieren des Flachlandes. Wenn sie nicht ohnehin ganztägig auf dem frischen Grün der Almen stehen oder an den Knospen der Alpenrosen zupfen, liegen sie im Bergwald und treten verlässlich am frühen Abend oder bereits am Nachmittag zur Äsung aus. Gilt die Jagd einem alten Rehbock, zeigt er meist eine Angewohnheit, die wir eigentlich nur aus stark frequentierten Revieren mit großer Störung beim Wild kennen. Er ist entsprechend heimlich und verlässt seinen sicheren Einstand meist erst bei Dunkelheit, um auf die Äsungsflächen zu ziehen. So bleibt uns nichts anderes übrig, als den Ansitz in den Einstand oder zumindest an Bereiche zu verlegen, wo wir seine Wechsel noch bei ausreichendem Büchsenlicht einsehen können. Je nach Erreichbarkeit der Ansitzmöglichkeit nutzen wir sie dann abends beim Auswechseln zur Äsungsfläche oder zeitig morgens, um ihn beim Einwechseln abzupassen.
Die Spannung steigt ...
Und genau das ist mein Plan an diesem Morgen. Ich habe in den letzten Tagen eine kleine Blöße inmitten einer üppigen Fichtennaturverjüngung gefunden. Zahlreiche frische Plätzstellen zeigen Aktivität an. Sie sind allesamt am Rande einer sandigen Stelle, wo die aufgehende Morgensonne das vom Morgentau nasse Wild trocknet. Dank eines Pirschweges komme ich, wie es scheint, unbemerkt an meinen kleinen, provisorisch für diesen Bock aufgestellten Sitz. Das Aufbaumen und Einrichten gelingt ebenfalls lautlos. Noch ist alles still um mich herum, die Morgensonne ist schon da und gibt ihre ersten warmen Strahlen ab. Ich beschließe, hier noch ein Weilchen auszuharren, denn – wie gesagt – Rehböcke sind in ruhigen Revieren Langschläfer und hier inmitten seines Einstands bummelt er sicher den ganzen Vormittag herum. Halb rechts vor mir sehe ich die Wipfel junger Fichten auffällig zucken. Das ist sicher kein Windstoß! Immer wieder wackeln sie heftig in einem gleichen Rhythmus. Dann erscheint ein roter Fleck in einer kleinen Lücke. Es ist ein Reh. Ob es der Gesuchte ist, kann ich nicht erkennen. Zumindest das Schlagen an den Fichtenbäumchen ist sicher nur einem Bock zuzurechnen. Mit der Kamera gelingen ein paar Bilder. Vergrößert auf dem Display, ist ein alter Bock mit einer abnormen rechten Stange auszumachen. Plötzlich spüre ich einen kalten Luftzug am Nacken. Der Bock steht wie versteinert und schreckt wenige Male mit tiefem Bass, bevor er wie von Geisterhand ganz von der dichten Naturverjüngung verschluckt wird. Ruhe kehrt wieder ein. Es kommt mir vor wie im Traum, der es ohne die Bilder auch gut hätte sein können.