Reviergang im September

 

 

An ganz großen, hellen Tagen

 

Schon um halb sechs saß ich, noch ehe die Rehe aus den Wiesen heimwärts zogen. Dann der in die Landschaft schleichende Tag. Und nun kamen sie ... 

 

 

 

Herrliche Spätsommertage, die Nachmittage immer noch schwül, am Abend schon angenehme Kühle. In der Früh, kurz vor sechs Uhr, war Schusslicht, abends gegen 20 Uhr Feierabend. Ein paar wenige Tage Glückseligkeit – ohne Laptop und ohne Smartphone, nur ein „Steinzeithandy“, Kostenpunkt 9,90 Euro beim „Blödmann“. Rufnummer fast geheim.

Am ersten Abend in kleiner Runde die allgemeine Feststellung, dass die Rehe an solch schwülen Spätsommertagen spät auf die Wiesen zögen. Der Wald, dem weniger menschliche Einsicht als Sturm und Käfer ein helleres, freundlicheres, an Stauden und jungem Laubholz reicheres Gesicht gaben, voll üppiger Äsung. So viel, dass der unvermeidliche Verbiss der Rehe kaum noch auffiel.

 

Die Hausfrau zerbröselte getrockneten Thymian für den Winter und einer aus der Runde schlug den Bogen von Thymian zu silbrigen Äschen und schließlich war man beim Hecht. „Hast du früher nicht auch gefischt?“

Da war sie geboren, die Idee, am nächsten Abend auf den Ansitz zu verzichten und ans Wasser zu gehen. Wo der Bach, von der uralten, verrauchten Hammerschmiede kommend, in den zum Bodensee strömenden Fluss drängte, standen sie. Es war einer der zuverlässigsten Hechtplätze des Fischreviers und ich durfte …

Lange stand ich nicht, als die Rute ausschlug und ich am silbernen Meps erstmals wieder seit vielen, vielen Jahren einen Hecht aus dem Wasser zog. Da war sie wieder, die Vorsicht beim Drill und das Quäntchen Angst, er könnte sich doch noch vom Haken lösen, wie man es als ganz, ganz junger Fischer fühlte. Schön war es, wieder solche Gefühle zu spüren. Gefühle in einer von Macht, Profitgier und Dummheit beherrschten Zeit!

 

Am anderen Morgen: Schon um halb sechs saß ich, noch ehe die Rehe aus den Wiesen heimwärts zogen. Dann der in die Landschaft schleichende Tag. Weit drüben in der Schweiz der Säntis, Blickfang vieler, vieler Ansitze in sommerlicher Frühe wie in winterlichen Mondnächten. Fast so etwas wie Heimweh oder eher Nostalgie kam auf. Doch was man sah, waren nur die Kulissen aus Wald und Gehügel. Sie verbargen gnädig, was hinter beiden lag: der Wahn von ewigem Wachstum, von immer mehr Industrie und gleichzeitig mehr Tourismus, immer mehr Konsum, bei sinkenden Ressourcen. Alles war so nostalgisch schön, weil man nichts sah – nichts sehen wollte – nichts vom Windradel-Wahn, nichts von den Orgien aus Beton und Asphalt, nichts von den unzähligen Biogasanlagen, für die einst traumhafte Wiesen in trostlose Gras-Plantagen oder Mais-Einöden verwandelt wurden.

Und dann kamen sie waldwärts gezogen, langsam sich Zeit lassend, immer wieder ein paar Blättchen zupfend – eine Geiß mit ihrem Kitz. Als sie auf vielleicht sechzig Meter heran waren, erwischte es das breit stehende Kitz. Es brach zusammen, schlug noch zwei-, dreimal mit den Läufen – aus! Die Geiß erschrak, sprang ab, blieb vor dem Waldrand stehen, äugte zum Kitz, war verunsichert. Schließlich zog sie im Stechschritt zurück, bis auf wenige Meter, um dann, noch ehe ich, selbst in Erregung geraten, einen Schuss loswurde, neuerlich abzuspringen. Noch einmal dasselbe Spiel, dann verschwand sie im Wald, wo sie mit anhaltendem Schrecken ihre Anwesenheit verriet.

 

Ich blieb sitzen, war mir sicher, dass sie noch einmal zum Kitz schauen würde. Rehe sind nicht weniger sensibel als wir. Sie mögen keine medizinischen Kenntnisse haben, aber dass es zwei grundverschiedene Zustände gibt – Leben und Tod –, das begreifen sie ganz, ganz sicher. Es dauerte lange und nichts geschah. Nach einer halben Stunde zog ich den Blatter, den ich im frühen Herbst immer dabeihabe, aus der Tasche und gab den Kitzfiep. Keine zwei Minuten dauerte es, da zog die Geiß – merklich verunsichert – heraus. Sie musste direkt innerhalb des Waldrandes auf ihr Kitz gewartet haben. Dann war auch sie aller Empfindungen und Ängste enthoben!

Am Nachmittag Dämmerschlaf unter Apfelbäumen. Summen unzähliger Insekten. Ein Schillerfalter auf meiner Nase. Aufdringliche Wespen an faulenden Falläpfeln. Im Ohr, zuweilen einschläfernd, zuweilen weckend, Haydns Adagio, sanft und weich – immer und immer wieder. Elegie des Spätsommers, letzte Schwüle, diskretes Summen. Burgenland. Pannonische Ebene. Flimmernde Weite. Träume ...

Früh begonnener Abendansitz im Wald. Leiter an einem kaum begangenen Grasweg. Sich über den Jäger aufregender Neuntöter. Unter blauem Himmel pfeilschnelle, kreischende Mauersegler. Admiralfalter auf der Gewehrauflage. Stoff, sich alles schönzureden.

Und dann plötzlich ein Jahrling zwischen Stauden neben dem Weg, an Mädesüß zupfend! 9,3x72 R, Gewehr älter als jener, der es immer noch benutzte, darauf – fast ebenso alt – ein kleines, in Ehren gehaltenes Glas. Alles immer noch ausreichend, immer noch befriedigend, zuweilen beglückend, ja von manchem Wahn befreiend!

 

Es wäre lächerlich, das Sterben der Insekten zu bezweifeln. Aber wenn an den Händen roter Schweiß klebt, wenn aus einem leblos gewordenen Körper der Ruch der Innereien steigt, dann darf man – wider besseres Wissen – zweifeln! Und die Decke eines eben erlegten Rehs riecht nicht anders als jene des allerersten. Sie versöhnt dich mit einer aus den Fugen geratenen Welt.

Am Abend grüne Kochschürze vom ANBLICK, mit dem man hadern kann und doch nicht umhinkommt, ihn zur besten, die Zeit und den Weg der Jagd erkennenden deutschsprachigen Jagdzeitung zu erheben!

Man bat darum, den Kuchelmeister spielen zu dürfen, und durfte es, zerlegte den am Vorabend gefangenen Hecht, würzte und gab ihn in die Kasserolle, erbat Speckscheiben und zupfte hinterm Haus, was an Kräutern sinnvoll erschien. Und es war dem Herzen so gleich, was über deine Improvisation gedacht wurde. Man nahm alles Lob, als sei es ernst gemeint.

Letzter Morgen: Rundfahrt diskret abgelehnt. Wunsch wurde erfüllt. Dafür ein Hochsitz, der jagdlich eher weniger versprach, aber noch diesen kleinen Ausschnitt der Landschaft zur Traumkulisse werden ließ. Drüben die Schweiz … Und „Egli“ gabs dort auch noch – braun gebraten oder mit Dillsoße – köstlich! Ja, die Schweiz, dort, wo Volkes Wille zählt, wo Politiker kontrollierte Diener des Volkes sind und dessen Entscheidungen und Volksabstimmungen respektieren oder gehen müssen …

 

Im nassen G’stauder vor mir ein Rehbock, früher der „Gästeklasse 3“ zugeordnet, interpretierfähig mit der „Personalklasse 1“ … Vergangene Zeiten, mit Punkten und Medaillen, mit Orakeln um gute und schlechte Vererber, Pflichttrophäenschau … Vorbei!

Die Welt war eine andere geworden. Der in den Ruhestand geschickte Repräsentant jenes Landes ließ wissen, die Solidarität mit einem anderen Land müsse es dem Volk wert sein, zwei oder drei Winter zu frieren. Seine Heizung war sicher! Und Menschen, die Angst vor gewissen Impfungen hatten, nannte der Herr Präsident „Covididioten“. Was also hätte ich dem sicher hochanständigen, vernunftbegabten Rehbock im nassen G’stauder antun sollen? Man führt gegen ehrliche Kreaturen keine Stellvertreterkriege.

Bruno Hespeler