Reviergang im Juni

 

 

Host was g’schossen?

Die Katze hatte aufgeworfen, sicherte und machte mich so auf ein Reh aufmerksam, das kein 50 Meter neben mir am Waldrand stand. Ein Jahrling war’s – und die Vergangenheit ist wörtlich zu nehmen!

 

 

 

Es war 3 Uhr: Ich stand am Schlafzimmerfenster und lauschte in die rabenschwarze, schweigende Neumond-Nacht. Irgendwo zwischen Gemeindebauhof, Biogasanlage und stillgelegtem Sägewerk sang – erstmals seit Jahren – eine Nachtigall. Früher standen Heidi und ich manche Nacht am Fenster und lauschten der kleinen, unscheinbaren Sängerin, bis uns Müdigkeit und nächtliche Kühle wieder ins warme Bett zogen. Da war dann trotz aller Müdigkeit die Angst, einzuschlafen und die selten gewordenen Lieder nicht zu Ende zu hören. Manchmal tastete im Tiefschlaf ganz vorsichtig eine Hand nach mir und eine Stimme flüsterte kaum vernehmbar: „Hörst sie nit?“

Es war die Angst, es könnte das letzte Mal sein, sie zu hören, so wie es irgendwann unbewusst das letzte Mal war, als sich in Sommernächten die jungen Waldohreulen in den Föhren ums Haus hören ließen. So wie es vor Jahren das letzte Mal war, dass sich im Mai die Nachtschwalben im schütteren Jungwuchs neben uns niederließen oder im Silbermond auf dem Gaildamm die Wachtel schlug. Alle diese Stimmen und ihre Gestalten gehörten von Kindesbeinen an zu unserem Leben. Sie waren Teil des Mörtels, der dieses zusammenhielt und der jetzt immer schneller bröckelt.

Abendansitz in einem fremd gewordenen Land, das einst so vertraut war: Ruch nach angewelktem Gras, das in Schwaden auf den Wiesen lag. Eine einfache, aber bequeme Leiter an einer Fichte am Waldrand. Dann, noch im hellen Sonnenschein drei Jungfüchse, denen der Kreiselmäher den Tisch gedeckt hatte. Später ein Bussard, der die Schwaden abschritt, Heuschrecken, Würmer und vermähte Blindschleichen sammelte. Sommerstimmung!

Um Viertel vor sieben eine Geiß mit ihren zwei Kitzen, wohl verführt von den duftenden Schwaden. Sie schlug das Gras auseinander, zog Blättchen und Blüten ihr wohl besonders schmeckender Gräser und Kräuter heraus und die Kitze taten es ihr nach. Es war herrlich, so zu sitzen, die Stimmung tief in sich aufsaugen zu können.

Heidi hatte vor meiner Abreise gemeint, ich solle eine Wildwanne oder eine große Plane mitnehmen –
für den Fall …

Gegen halb acht zog eine zweite, kitzlose Geiß auf die Wiese. Ein mir wohlgesonnener Jagdfunktionär, der nebenher einen Wildbrethandel betrieb, meinte einmal, ein Viertel der im Juni bei ihm angelieferten Schmalrehe wären wohl eher der nächsten Altersklasse zuzurechnen. Was ihn zu dieser Aussage bewog, blieb verborgen, aber so ganz grob deckte es sich mit eigenen Erfahrungen …
Um wie viel leichter muss es sein zu sagen, ob ein Rehbock schon fünf oder doch nur drei Winter auf dem Ziemer hat …

Acht Uhr: Es roch nicht mehr nur nach werdendem Heu, ein wenig roch es auch nach Rehbock, nicht gerade physisch, aber psychisch … Ich hatte ein gutes Gefühl, eine Zuversicht, die sich jedoch nicht erfüllte. Nicht an diesem Abend. Als das Licht für meine altväterliche Optik zu schwach wurde, brach ich ab, entlud das Gewehr und wanderte gemächlich zurück zum letzten Hof, wo mein Auto stand.

Irgendwo drunten auf der Bundesstraße, über Kilometer hinweg hörbar das unverkennbare Dröhnen einer Harley. Vielleicht haben diese bei älteren, von Hartz-IV-befreiten Männern eine ähnliche Funktion und Bedeutung wie Cabrios?

In der Nacht stand ich wieder am Fenster. Ein Hofhund in der Nachbarschaft des Gasthofes, vielleicht von einer läufigen Hündin motiviert, bellte sich über Stunden heiser. Ich lauschte hinaus in die Nacht, hoffte vergeblich auf Wachtel oder Kauz. Lange lag ich wach, dem Köter alles verzeihend, aber seinen dickfelligen Besitzer hundertfach verfluchend!

Endlich das anschwellende Piepsen des Weckers. Wasser im Gesicht, Hemd und Hose und zuletzt die Stiefel gebunden. Scheinwerfer tasteten in der Nacht herum, dann am Waldrand die Kiste für das winterliche Streugut und der Weg in den Wald hinein. Mein Gastgeber hatte geraten, in der Früh den Sitz durch den Wald anzugehen, um von den in den Wiesen draußen stehenden Rehen nicht bemerkt zu werden. „Sacknacht“ war’s unter den Fichtenkronen, die sich berührten und keinen nächtlichen Widerschein zum Boden ließen. Die sonst immer im Rucksack mitgeführte Taschenlampe lag vergessen im fernen Kärnten im Hühnerstall. Der Bergstecken mutierte zum Blindenstock. Dann der Waldrand, davor die weiten, kaum von einem Dämmerschein berührten Wiesen. Der Wald war dunkler Zuschauerraum, die Wiesen wurden zur abgedunkelten, nur schemenhaft wahrnehmbaren Bühne. Die Natur gab den Freischütz …

Schließlich die Leiter vom Vorabend. Taunasses Gras. Müdigkeit. Augen, die nicht offen bleiben wollten. Kühle, die schaudern ließ. Erinnerungen an ganz frühe Jugendtage. Hinter meinem Bett ein Regal mit blau kariertem Vorhang, Streitobjekt zwischen mir und meiner Mutter: Ich war 13 und war schon „Jäger“ und forderte grün kariert … Hinterm Vorhang ein Plattenspieler, daneben immer eine Flasche mit der Aufschrift „Topinambur“, vom alten Straub mitgebracht aus dem Schwarzwald. Ging ich zum Frühansitz, machte mich der auf dem Plattenteller liegende Freischütz – ganz, ganz leise –
mit dem Jägerchor wach. Fertig angekleidet und ehe ich mich aus dem Haus schlich, ein Schluck Topinambur. So war es Jägerbrauch – der meine halt …

Zügig wurde es hell. Droben an jenem Hof, an dem ich am Vorabend mein Auto parkte, standen jetzt –
nur schemenhaft erkennbar – drei Rehe. Auf der gemähten Wiese mit den Schwaden lauerte eine schwarz-weiße Katze auf Mäuse. Damals, in seligen Freischütz- und Topinambur-Zeiten, galten Katzen noch als schlimmste Geisel des Niederwildes. Als Lehrling musste ich immer ein kleines Papiertütchen mit gemahlenen Baldrianwurzeln mitführen. Ging man zum Ansitz, so war es befohlen, musste man mit den gemahlenen Wurzeln eine „olfaktorische Schleppe“ streuen. So sollten die streunenden Katzen „reguliert“ werden. In Wirklichkeit wurden bis dahin harmlose Hauskater ins Revier gelockt. Der Lodenmantel, den ich seinerzeit trug, stank noch Jahre nach Baldrian.

Der „Kampf“ gegen alles, was Fangzähne oder krumme Schnäbel hatte, so wie er damals vielen Jägern selbstverständlich war, widerte mich schon früh an. Irgendein Waldgeist hatte Verständnis und gewährte mir dauerhaft Asyl im Gebirge. Vor den unerschrockenen Kämpfern gegen krumme Schnäbel und Fangzähne war ich auch dort nicht sicher, aber sie waren seltener und Zeit wie Gesellschaft stellten die Weichen in eine andere Richtung.

Die Katze hatte aufgeworfen, sicherte zum Waldrand hin und machte mich so auf ein Reh aufmerksam, das keine 50 Meter neben mir am Waldrand stand. Ein Jahrling war’s und die Vergangenheit ist wörtlich zu nehmen!

Wieder daheim, die obligate Frage: „Was host g’schossen?“ Noch nie in all den Jahrzehnten hat einer gefragt, was ich erlebt habe …

Bruno Hespeler