Im Revier
Was halten Rehe aus
Rehe gehören einerseits zu jenen Hirscharten, die in Stresssituationen oft beinahe kopflos reagieren, andererseits scheinen sie mit den massiven Umweltveränderungen der letzten Jahrzehnte gut zurechtzukommen. Die Wildart besiedelt zunehmend urbane Gebiete und die Strecken sind während der letzten Jahrzehnte massiv angestiegen. Ist das Reh also nun eine besonders sensible oder eine sehr anpassungsfähige Wildart?
Nachdem es am Nachmittag etwas geregnet hat, sind die Rehe schon früh aktiv und ich beschließe, nicht direkt nach Hause zu fahren, sondern nehme einen etwas längeren Weg mitten durchs Revier. Das ist nicht mit einer „Gummipirsch“ gleichzusetzen, denn im gesamten Waldrevier wird kein Stück über sogenannte Pirschfahrten erlegt. Gleich beim Försterkogel steht ein Rehbock etwa 30 Meter neben dem Forstweg und markiert. Ich wusste aus den vergangenen Jahren, dass hier einer daheim ist, aber in Anblick hatte ich den gut ausgelegten Sechser bisher noch nie. Der Bock ist nicht mehr jung, weiße Ringe um die Lichter, weiße Stirn und dicke, kurze Rosenstöcke lassen auf einen älteren Herrn schließen. Er reagiert nicht auf das Auto, so bleibt ausreichend Zeit fürs Ansprechen. Langsam zieht er von mir weg in den Bestand, um dann irgendwann doch ein paar Mal zu schrecken, ohne jedoch zu flüchten. Zumindest weiß ich jetzt, dass ihm meine Anwesenheit nicht so ganz gepasst hat – auch wenn er ausgehalten hat und nicht abgesprungen ist. Nachdem ich verstanden habe, lasse ich ihn in Ruhe – vielleicht sehen wir uns zur Blattzeit wieder.
Angst vor Neuem
„Neophobie“ ist die Angst vor Neuem, vor unbekannten Situationen und Fremden. Auch wenn der Rehbock im Waldrevier sicher nicht allzu häufig mit Fahrzeugen konfrontiert ist, nachdem sein Territorium direkt im Bereich der Forststraße liegt und nachdem er auch schon einige Jahre auf dem „Buckel“ hat, dürfte ein Auto für ihn dennoch nicht wirklich etwas Neues gewesen sein. Einen gewissen Gewöhnungseffekt, der noch dazu mit keiner Gefahr verbunden wird, hat es in diesem Fall wahrscheinlich schon gegeben. Können die Tiere ihr Verhalten also anpassen? Sind Rehe tatsächlich so plastisch in ihrem Verhalten, dass sie Umweltveränderungen oder Angst vor neuen Dingen leicht wegstecken? Eine interessante Studie aus Schweden zeigt, dass dabei die Stressreaktion sowohl auf individueller Ebene wie auch auf Populationsebene ganz verschieden sein kann. Der Titel, den sich die Schweden für ihren Fachbeitrag dazu ausgedacht haben, ist nicht ganz ernst gemeint, aber er passt vielleicht ein wenig in die Zeit. Die Schweden fragten: „Wer hat Angst vor dem großen, bösen Wolf?“
Wie kommen sie auf dieses Thema? Über Jahre entstand ein Bild, nachdem Rehe mit fast allem fertig werden. Zentral geprägt wurde es bei uns durch die ständig laufende Wald-Wild-Diskussion und die langjährig steigenden Strecken. Die Schweden arbeiteten mit drei Hypothesen. Sie untersuchten diese, indem sie ihre eigene Arbeit mit Rehen in zwei unterschiedlichen Forschungsrevieren verglichen – Grimsö und Bogesund. Das ist ohne Zweifel ein ungewöhnlicher Ansatz. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie Rehe auf Stress in Zusammenhang mit Fang und Markierung reagieren. Im Revier Grimsö dominiert die Forstwirtschaft, die Region ist dünn besiedelt. Nach der Rückkehr von Luchs und Wolf ist die Rehwilddichte von 10,6 Rehen auf 100 Hektar im Jahr 1984 auf 0,8 Rehe je 100 ha im Jahr 2016 gesunken. Das Reh ist also zu einer seltenen Wildart geworden. Der wichtigste Mortalitätsfaktor für das Reh ist hier die Prädation durch Raubwild – auch der Fuchs gehört dazu, wenn es um die Kitze geht. Das Revier Bogesund ist zwar immer noch stark bewaldet, aber hier spielt die Landwirtschaft eine deutlich größere Rolle, zudem ist diese Region sehr viel dichter von Menschen besiedelt. Tourismus und Freizeitnutzung sind starke Einflussfaktoren. Die Jagd ist der wichtigste Regulationsfaktor für das Reh. Die Rehwilddichte ist seit 2008 stabil und liegt bei etwa 10 Rehen pro 100 ha. Es gibt hier kein Großraubwild, aber die Fuchsdichte ist höher. In beiden Forschungsrevieren werden seit vielen Jahren Rehe gefangen und markiert, das geschieht im Leben ein und desselben Rehes auch mehrmals. Wie lauten nun die drei Arbeitshypothesen? Hypothese I: Jene Rehe, die ganzjährig hohem Raubfeinddruck ausgesetzt sind, sollten stärker auf Stresssituationen reagieren als diejenigen, die in einer stark vom Menschen frequentierten Landschaft leben. Hypothese II: Kitze, die markiert werden, sollten weniger Stress erleiden als erwachsene Rehe. Hypothese III: Es sollte individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Rehen geben, die ein Leben lang erhalten bleiben.
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