Jagderlebnis

 

 

Der Einkruckige

Im Bergwald stand ein einzelner Gams und verhoffte neugierig auf mich herunter. Ein Bock war es und was er auf dem Haupte trug, war mehr als interessant. Die Krucke war trotzdem vorerst nebensächlich. Denn was ich ansonsten sah, deutete auf einen Bock der Klasse II hin ...  

 

 

 

Nebelschwaden zogen über die Hänge, manchmal trieb sie der Wind darüber hinweg, um sie wenig später wieder hineinzudrücken in die Gräben und Schluchten unseres Mariazeller Bergreviers. Manchmal blinzelte die Sonne zwischen den grauen Bänken hervor, um gleich darauf wieder verschluckt zu werden von den dunklen, fast bedrohlich wirkenden Wänden des Gamshüters. Oktober war es geworden und die Gams zeigten schon ihr schwarzes Winterhaar, wenngleich sie den Haarwechsel noch keineswegs vollständig beendet hatten. Ich pirschte vorsichtig hinein in einen Schlag, in dem wir das „Blattstandl“ stehen hatten. Am Ende eines kurzen Pirschsteiges steht dieses Bodenstanderl am Fuße des besagten Schlages und man sieht hinauf in den schütter bestockten Fichtenhochwald. Irgendwo da oben steht eine Baumsulze, die man vom Bodenstanderl gut einsehen kann und die sowohl das Rehwild als auch Gams gerne frequentieren.

 

Die kühle Herbstluft durch die Lunge saugend, setzte ich Schritt für Schritt, immer wieder innehaltend und die Gegend über mir mit dem Gucker absuchend. Einzelne Nebelschwaden drückte es bis auf den Boden herab, nur schemenhaft waren Teile des Berghanges einsehbar. Aber irgendwie fühlte ich mich beobachtet, irgendetwas kam mir komisch vor, als ich mich – beim Bodenstanderl angekommen – gegen dessen Brüstung lehnte und vorsichtig mein Fernglas an die Augen hob. Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht! Dort oben, keine sechzig Meter im Bergfichtenhochwald entfernt, stand ein einzelner Gams. Und er verhoffte neugierig auf mich herunter. Langsam und bedächtig setzte er sich in Bewegung und zog nun links von mir weg, wo der Bestand immer dichter wurde. Ich ließ den Gucker in den Riemen fallen, griff zur Kipplaufbüchse und strich an der Kanzelbrüstung auf den Gams an. Mit dem Gamsabschuss hinkten Tom und ich hinterher und ich wollte keine Zeit verlieren, sollte der Gams passend sein. Ein Bock war es! Und was er auf dem Haupte trug, war mehr als interessant! Rechts war die Krucke unversehrt, links zeigte der Bock nur einen vielleicht drei Zentimeter kurzen Stummel. Ich vermochte nicht zu sehen, ob die linke Krucke abgeschlagen war oder ob es sich um eine Missbildung handelte. Die Krucke schien mir trotz der Abnormität vorerst nebensächlich. Denn was ich ansonsten sah, deutete auf einen Bock der Klasse II hin. Die gesamte Statur, der Vorschlag erschienen mir noch nicht voll ausgereift. Auch wirkte mir der Bock noch eher hochläufig, im Wildbret nicht stark. Der Pinsel war klar sichtbar, aber keineswegs so dominant, wie ich es von wirklich alten Böcken gewohnt war. Auch die Deckenfarbe schien mir noch tiefschwarz zu sein und die Maske zu klar abgegrenzt, verwaschene Zügel konnte ich nicht erkennen. Der Keulenfleck war gut zu sehen und wirkte hell. Also alles in allem ein mittelalter Gamsbock, so zumindest meine Einschätzung. Das einzige Indiz für ein älteres Semester war, dass es sich um einen einzelnen, völlig allein gehenden Bock handelte, der sich hier in diesem schattigen Schlag herumtrieb. Aber das allein reichte mir nicht aus. Gerne hätte ich ihn ansonsten genommen. Doch ich nahm die Büchse von der Wange, und als ich sie wieder schulterte, zog der Bock gemächlich und ohne Hast in den dichteren Bestand, bis er meinen Blicken entschwunden war.

 

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