Im Revier

 

 

Spirale der Scheuheit

Rotwild verlegte in den vergangenen Jahren in vielen Revieren seine Hauptaktivität auf Freiflächen in die Nachtstunden und besonders Kahlwild verringerte seine Streifgebietsflächen, da erfahrungsgemäß jede Bewegung mit Gefahr verbunden ist. Zahlreiche Faktoren treiben diese Spirale der Scheuheit voran und verschärfen sie zusehends.

 

 

 

Ein Grundübel für die zunehmende Scheuheit von Rotwild ist vermutlich, dass der Mensch seine Fähigkeiten über- und jene von Wildtieren bei Weitem unterschätzt – so auch die Fähigkeiten der Sinnesorgane sowie das Merkvermögen von Rotwild. Rotwild ist imstande, einmalig gemachte negative Erfahrungen rund fünf Jahre zu speichern. Diese Erfahrungen werden natürlich an die Nachkommen weitergegeben, allein schon durch ein vorsichtigeres Verhalten in Raum und Zeit. Neben der genetischen Ausstattung von Wildtieren gibt es individuelle Charaktereigenschaften. So ließen sich beispielsweise besenderte Wapitis in zwei Gruppen einteilen: Einerseits waren es vorsichtige Stücke, die sich kleinräumiger in deckungsreichem Gelände bewegten, und andererseits agilere, bewegungsfreudigere Tiere, die sich auch häufiger in lichten Waldbeständen oder auf Freiflächen aufhielten. Tiere aus der zweiten Gruppe wurden in der Vergangenheit leichter erlegt, der scheuere Restbestand war schwieriger zu beobachten bzw. zu bejagen und vermehrte sich. Dieses scheuere Verhalten wurde an Kälber und Schmalstücke weitergegeben und die Spirale begann sich zu drehen. In vielen Rotwildregionen fällt in den letzten Jahren auf, dass besonders Kahlwild immer kleinere Streifgebiete hat, sicherlich aufgrund der Erfahrung, dass jedes weitere Wechseln mit zusätzlichen Gefahren verbunden ist. So stehen Tiere mit ihrem Nachwuchs über den Sommer oft nur auf wenigen Hektar in Gräben, wo sie Äsung, Wasser und Deckung haben. Vermutlich ist es nur eine Frage von wenigen Generationen, bis dieses erworbene vorsichtigere Verhalten nicht nur anerzogen wird, sondern zusätzlich über die Epigenetik weitergegeben werden kann. Für die Rotwildbejagung lässt dies in Zukunft enorme Schwierigkeiten erwarten.

 

Faktoren der Wildlenkung

Die Lenkung des Rotwildes in Raum und Zeit wird in hohem Maße durch menschliche Faktoren und Umweltfaktoren beeinflusst. Zu den Ersteren zählen Jagddruck, Forststraßennetz, Freizeitnutzung der Natur, jagdliche und touristische Ruhezonen, Fütterungen, Äsungsflächen, forstliche Maßnahmen wie die Auflichtung von Altbeständen, Kirrungen, Silolagerung, Ganzjahresfreilandhaltung von Rindern und Pferden sowie Verstänkerungen oder bewusste und unbewusste Jagdstörungen. An Umweltfaktoren sind besonders mildere Winter, Hitze- bzw. Trockenperioden, Wassermangel, intensivere Grünlandnutzung, Gülledüngung oder das Vorkommen großer Beutegreifer von Bedeutung. Rotwild verfügt über ein Langzeitgedächtnis sowohl für negative als auch positive Erlebnisse und der Sicherheitsaspekt steht für Rotwild über allem.

 

 

 

Ältere Faktoren

Als Jungjäger wurden wir von den Altvorderen noch so geschult, dass es unweidmännisch oder nahezu frevelhaft sei, an einem Tag mehr als ein Stück Schalenwild zu erlegen. Mit dieser Einstellung wurde damals quer durch die Lande vielen Tieren das Kalb oder Schmalstück weggeschossen und das Tier geschont, obwohl damals noch häufiger die Möglichkeit von Mehrfachabschüssen vorhanden gewesen wäre. Dass schon damals die Muttertiere mit oft mehrfachen Verlusterfahrungen vorsichtiger wurden, liegt wohl auf der Hand. Über die letzten Jahrzehnte war es natürlich leichter, die „Unvorsichtigeren“, die abends früher austraten oder morgens später einzogen, zu erlegen als die Vorsichtigeren. Auch das hat schon frühzeitig die Spirale der Scheuheit angetrieben. War es früher auch nicht schwierig, bei Rotwildrieglern trotz Autotürenschlagens und lauter Unterhaltung samt Husten bis zum Stand das eine oder andere Stück Rotwild zu erlegen, flüchtet Rotwild heute schon weiträumig auf große Distanzen, sobald in einen Graben morgens plötzlich mehr als ein Auto einfährt – oder es lässt andernorts Durchgeher oder Treiber auf wenige Meter vorbei und drückt sich gekonnt wie Rehe oder Hasen …

 

 

Jüngere Faktoren

Die Zunahme der ganzjährigen Naturnutzung durch uns Menschen über Tag und Nacht sowie die Ausdehnung des Verbreitungsgebietes des Schwarzwildes mit zusätzlichem Jagddruck auch in der Nacht und nicht zuletzt das Auftreten des Wolfes sind weitere wesentliche Lenkungsfaktoren für das Rotwild. Durch die schwierigere Bejagbarkeit ergriff man mitunter illegale Methoden, die den Jagderfolg wieder steigern sollten, und diese Methoden waren Grund für eine weitere Steigerung der Scheuheit. Seien dies Kirrungen, Nachtjagd, Bejagung vom Auto aus oder an Fütterungswechseln sowie schlecht organisierte Bewegungsjagden. Was nur ansatzweise versucht wurde, sind revierübergreifende Jagden, die mit einer einmaligen Beunruhigung größere Strecken erwarten lassen. Stattdessen wird versucht, Jagdgrenzen „dicht“ zu machen oder Rotwildwechsel mit unlauteren Methoden zu verstänkern.

Mit jeglicher Form von gezielten Wildbeunruhigungen oder Jagdstörungen wird die Spirale der ohnedies stetig steigenden Scheuheit des Rotwildes nochmals angeheizt, was schlussendlich die Bejagbarkeit noch viel schwieriger macht und zugleich die Wildschadenssituation verschärft. Solche Praktiken fallen schlussendlich dem Rotwild sprichwörtlich „auf das Haupt“, zumal es bei Behinderung der Bejagung zu den gesetzlich festgesetzten Schusszeiten vermehrt zu Schadwildabschüssen auch außerhalb der regulären Schusszeit kommt. Die vermeintlichen „Rotwildschützer“ werden so zu Totengräbern des Rotwildes.

 

Hohe unsichtbare Bestände

Trotz stark steigender Abschusszahlen in den letzten Jahrzehnten sinken vielerorts die Rotwilddichten nicht und Rotwild kommt mittlerweile in Regionen vor, wo es noch nie auftrat oder wo es in den letzten Jahrzehnten nicht mehr lebte. Ursache dieses Phänomens ist meist ein zu den weiblichen Stücken hin verschobenes Geschlechterverhältnis mit hohen Zuwachsraten. Verbunden mit den hohen Beständen sind ein gesteigertes Schadensrisiko wie auch ein erhöhtes Risiko hinsichtlich des Auftretens von Krankheiten und Seuchen. Die Notwendigkeit, Rotwildbestände auf das Maß der wirtschaftlich tragbaren Lebensraumkapazität herabzusetzen, wird von den Beteiligten in vielen Fällen zu spät erkannt und es fehlten in der Folge oft der Wille und/oder das ausreichende Durchhaltevermögen sowie ausreichend geeignete Jäger. Der Waldumbau aufgrund von Borkenkäfer- und Sturmschäden und die Anpassung an den Klimawandel, der „klimafitte“ Wälder fordert, stellen die Rotwildbejagung noch dazu vor neue und schwierige Aufgaben.

 

Die Zukunft?

Hohe Abschussvorgaben und verzögerte Abschusserfüllung erhöhen meist den Jagddruck und verändern das Raum-Zeit-Verhalten des „belehrten“ Rotwildes. Mit steigendem Bejagungsaufwand und sinkendem Jagd-erfolg lässt die Motivation der verantwortlichen Jäger nach und das Ziel einer effizienten Rotwildregulierung rückt immer weiter in die Ferne. Die effiziente Wildstandsregulierung beim Rotwild ist angesichts der außerordentlichen Sinnesleistungen und der Lernfähigkeit des Rotwildes sicher eine der größten jagdlichen Herausforderungen, ähnlich wie die Schwarzwildbejagung.

Zukünftig unbedingt notwendig sein wird eine kreative Veränderung von Jagdstrategien. Wer für das Wild möglichst „unkalkulierbar“ ist, macht es durch „abwechslungsreiche“ Bejagung am wenigsten scheu. Bei gleichbleibender Jagdstrategie hingegen sinkt der Jagderfolg sukzessive und die Abschüsse lassen sich immer schwerer erfüllen – vor allem bei wiederholt „belehrten“ Alttieren, denen man schon mehrfach ihre Jungtiere weggeschossen hat. Auch ein Schuss in große Rudel bringt viele „stumme Zeugen“.

Das oberste Ziel nach jeder Reduktionsphase sollte sein, noch vertrautes Wild mit einer guten Struktur im Revier zu haben. Jeder Rotwildspezialist hat unterschiedliche Strategien, um das zu erreichen. Jedes Revier hat andere Voraussetzungen und wird unterschiedliche, teils gegensätzliche Ansätze entwickeln, um zum gleichen Erfolg zu kommen. Notwendig ist jedenfalls ein Einfühlungsvermögen für Rotwild und nicht ein blindes Vertrauen auf Waffentechnik und Optik. Genauso nötig ist ein vollkommener Verzicht auf verbotene jagdliche Lenkungsmaßnahmen.

Es wird eine ganz wesentliche Zukunftsfrage für das Weiterbestehen der Jagd in Mitteleuropa, ob in den nächsten wenigen Jahren die vielerorts schwelende „Rot- und Schwarzwildproblematik“ jagdlich beherrscht werden kann. Bei einem Scheitern macht sich die Jagd noch angreifbarer, als sie ohnedies schon ist. Hauptsächlich wird es von unserem Wollen und Können abhängen und von dem Umstand, dass wir nicht weiterhin diese beiden hochsozialisierten Wildarten von ihren Fähigkeiten her maßlos unterschätzen.

Dr. Armin Deutz