Der Weihnachtshase
Verschneiter Wald, wenige Meter vor mir das edle Wild mit angelegten Löffeln und gespannt wie eine Feder. Sekunden später fuhr es aus dem Lager hoch und hinterließ eine Staubwolke von Pulverschnee bei seiner Flucht.
Welche Faktoren mögen bestimmend sein, dass aus einem kleinen Buben ein ganz begeisterter jagdinteressierter Mensch wird? Bei meinen Bruder und mir war es jedenfalls so, dass vielleicht das Vorenthalten der ersehnten Tätigkeit von unserem Vater, welcher nur gelegentlich zur Jagd ging und uns dabei immer zu Hause ließ, ein ausschlaggebender Grund war. Im Gegensatz dazu waren seine Freunde fast alle leidenschaftliche Jäger und oft, wenn er mit unserem Willys-Jeep zu ihnen fuhr und wir doch einmal dabei sein durften, gab es das eine oder andere Stück Wild zu bestaunen. Sämtliches heimisches Wild, egal ob Hase, Fuchs oder Reh, wurde von uns stundenlang bestaunt und zu Hause, fasziniert von dessen Schönheit, gezeichnet.
Die Geschichte, welche ich nun erzählen möchte, trug sich an einem Sonntagvormittag kurz vor Weihnachten Ende der 60er-Jahre zu. Über Nacht waren etwa 10 bis 15 cm Neuschnee gefallen und unser Vater war daheim in der gemütlich warmen Stube. Das allein war schon eine Seltenheit, da er sonst sonntags meist bei der Baumgartmühle frühschoppte. Er ließ sich zudem an diesem Tag auch durch Reinholds und mein Betteln erweichen, uns einen Weihnachtshasen zu holen. Den sprichwörtlichen Hasen vom „Brunnkamm“, welcher eine kleine Waldparzelle über unserem Haus war, die aus zwei tiefen Gräben bestand. Wobei sich im ersten Graben eine kleine Quelle mit Bassin befand, welche unser kleines Häuschen mit Wasser versorgte.
Bei leichtem Schneefall zogen wir drei also Richtung Tuttenhofer Holz los. Gegen die Kälte dick mit dem damaligen Wintergewand eingepackt und die Hände mit Omas selbst gestrickten Fäustlingen geschützt – diese waren mit einem dicken Wollfaden in den Rockärmeln verbunden, damit nur ja kein Handschuh verloren ging. Das Wichtigste war aber natürlich Vaters einläufige 12er-Hahnflinte, die ihn seit seiner Jugend schon immer begleitet und den Krieg beinahe unversehrt überstanden hatte. Unzählige Jagderlebnisse konnte er uns erzählen, welche er mit dieser Schrotflinte schon erlebt hatte. Wie alle Erzählungen von ihm und seinen Freunden sog ich diese wie ein Schwamm auf und wich keine Sekunde von der Seite der erzählenden Jäger.
Oben beim Brunnenbassin angekommen, bezog mein Vater seinen Stand bei den alten Fichten, die dort wuchsen. Wir mussten draußen auf der Viehholt raufgehen und das Brunnholz zu ihm „durchtreiben“. Das Ganze ereignete sich in gut einsehbarem Raum. Jeder mit einem Haselstecken ausgerüstet, wie es sich für echte Treiber eben gehörte, erledigten mein Bruder und ich gewissenhaft unseren Auftrag. „Has, Has, aussi, aussi!“ rufend, vielleicht 30 Meter ins Holz, da saß wirklich in der Sasse ein Hase vor mir – das begehrte Wild! Ich habe heute nach den vielen Jahrzehnten, die inzwischen vergangen sind, noch immer dieses Bild im Kopf: Verschneiter Wald, wenige Meter vor mir das edle Wild mit angelegten Löffeln und gespannt wie eine Feder. Genauso wie der berühmte Hase von Dürer, einfach ein traumhaftes Bild. Sekunden später fuhr er aus dem Lager hoch und hinterließ eine Staubwolke von Pulverschnee bei seiner Flucht über die Leitn in Vaters Richtung. Geschrien hätte ich wie ein Indianer: „Da Hos, da Hos, da Hos!“ Von unserer Warte aus beobachteten wir, wie er immer weiter Kurs zum Brunnenbassin nahm und somit Vaters Stand sehr nahe kam. „Es hot’n schon gworfen!“, war mein Ruf, nachdem es den Hasen im Schuss überschlagen hatte. Kopfüber rannten wir unserer heiß begehrten Beute hinterher, welche nach ein paar Fluchten bei den Brombeerstauden am Rande des Dürofen-Ackerl verendet im Pulverschnee lag. Vater wartete auf uns und ließ uns den Hasen in Besitz nehmen. Einzelne tiefrote Schweißtropfen fielen in den jungfräulichen Schnee, sie zeugten davon, dass Vaters grobe Schrot‘ getroffen hatten, als wir den Hasen hochnahmen, um ihn in seiner ganzen Schönheit zu betrachten. Das braun-orange Fell mit seinem weißen Bauch, die Löffel, mit schwarzem Samt eingesäumt, und seine weiße Blume mit schwarzer Oberseite wurden von uns genauestens betrachtet. Vater schränkte dann die hinteren Springer mit seinem Knicker, um uns das Heimtragen des Hasen zu erleichtern. Jeder, der Kinder großgezogen hat, kann erahnen, dass es vermutlich eine Streiterei um das Vorrecht gab, wer denn nun das Wildbret heimtragen und Oma und Mama präsentieren durfte. Mein Anteil vom Beuteheimtragen wird wohl eher ein Hinterherschleifen des Waldhasen gewesen sein, da mir als achtjährigem Jungen auch letztendlich die Kräfte gefehlt haben dürften.
Das gesamte Jagdabenteuer hat maximal eine Dreiviertel-Stunde gedauert, doch war es ein solch unvergessliches Erlebnis, dass ich mich nach fünf Jahrzehnten noch immer gern daran zurückerinnere. Der Vater hat das Erlebte oft seinen Kollegen erzählt und dabei nie vergessen, meinen Ruf zu erwähnen: „Da Hos, da Hos, es hot’n schon gworfen!“ Mit Stolz erfüllt es mich auch heute noch, wenn ich daran denke, dass ich damals als kleinstes Rädchen in der Jagdgesellschaft massiv zum Jagderfolg beigetragen habe. Damals konnte ich noch nicht erahnen, welch beeindruckenden Erlebnisse mir von Hubertus und unserem Herrgott vergönnt werden würden. Heute, wenn auch mein Haar langsam grau wird, lodert das Feuer der Jagdleidenschaft noch immer genauso wie damals in mir. Als wolle es nie versiegen, genährt wie das bengalische Feuer. Immer mit großem Respekt und Ehrfurcht vor Gottes Schöpfung und ohne einen Haufen Kriegstechnik im Rucksack mitzuführen, trage ich heute und auch in Zukunft mit Stolz mein Jagagwandl.
Hermann Hofbauer