Gamsbrunft ohne stürmische Hetzjagden?
Beobachtungen am unbejagten Gamswild im Schweizerischen Nationalpark zeigen, dass es sich anders verhält als in bejagten Gebieten. Beispielsweise verläuft die Brunft verhältnismäßig ruhig, was ja durchaus Sinn macht, um mit den eigenen Energiereserven möglichst gut haushalten zu können.
Die Tage werden merklich kürzer und kälter, teilweise liegt schon Schnee, das Licht und die Farben faszinieren: Es ist November. Manchen von uns zieht es jetzt hinaus und hinauf in die Höhe: Die Gamsbrunft lockt. Sei es, um sich am Anblick der schwarzen Gams zu erfreuen, oder mit der Absicht, Beute zu machen. Die Gamsbrunft begeistert nicht durch das Spektakel wie die Hirschbrunft. Es ist die Stille, das Mystische, das begeistert.
Unbeteiligte Beobachter
Im Schweizerischen Nationalpark werden Gams nicht bejagt, wir können von einem natürlichen Geschlechterverhältnis und einer natürlichen Altersstruktur ausgehen. Hier lässt sich die Gamsbrunft auch schön beobachten. Die Rudel werden im Monat November immer kleiner. In der letzten Novemberwoche finden wir oft nur zwei bis fünf Individuen beieinander. Meistens zwei oder drei weibliche Stücke und ein oder zwei Böcke, davon ist einer älter, der andere jünger. Der Ältere wirbt und der Jüngere scheint teilnahmslos dabeizustehen. Wahrscheinlich wartet er, und in einem Moment der Unachtsamkeit wird er versuchen, seine Chance zu nutzen. Die meisten Geißen werden in der letzten Novemberwoche beschlagen. Das heißt aber nicht, dass das Brunftgeschehen dann beendet ist. Es finden vereinzelt Kopulationen noch Anfang Jänner statt. Da sich die Böcke kennen, finden kaum wilde Verfolgungsjagden statt. Verhaltensweisen, die offensichtlich mit der Brunft in Zusammenhang gebracht werden, nehmen einen kleinen Teil ein. Bei den Geißen ist dies noch weniger als bei den Böcken. Die meiste Zeit ziehen die Gams umher und stehen herum. Dies hat durchaus einen Sinn, nach dem einfachen Prinzip: Sehen und gesehen werden. Aktivitätssensoren bei besenderten Tieren machten es deutlich: Das einzelne Tier, sowohl Böcke als auch Geißen, ist während dieser Zeit nur ganz wenige Tage aktiver als sonst. Dies ist durchaus logisch, denn jetzt darf nicht allzu viel Energie vergeudet werden, schlussendlich soll im Frühling der Nachwuchs unter möglichst guten Voraussetzungen zur Welt kommen und überleben.
Sorgenkind der Jäger
Es scheint, dass die Gams schon immer ein Sorgenkind der Jäger, aber auch der Naturschützer waren. Schon vor über hundert Jahren hatte man Sorge, die Gams könnten gefährdet sein oder gar aussterben. Gründe dafür waren damals wie heute die gleichen: alle möglichen Störungen durch den Menschen und eine jagdliche Übernutzung. Dies war auch den Gründervätern des Nationalparks bekannt. So entsteht schon um 1914 die Absicht, in einem vom Menschen nicht gestörten Gebiet, dem Schweizerischen Nationalpark, Grundlagen für den Schutz, aber auch eine nachhaltige Nutzung zu erarbeiten. Die Absicht ist da, nur mit der Umsetzung will es nicht so klappen. In der Forschungswelt fühlen sich die Zoologen für das jagdbare Wild nicht zuständig, sie sehen es als Aufgabe der Jäger. Den Jägern fehlt jedoch das notwendige Wissen. Die Bestände werden von Anbeginn erhoben. Erst zu Beginn der 1960er-Jahre, mit der Anstellung eines Zoologen, wurden die Bestandeszählungen zuverlässig und vergleichbar. Es dauerte dann weitere 30 Jahre, bis das erste Gamsprojekt im Schweizerischen Nationalpark auf die Beine kam. Im Rahmen dieses Projekts wurden die vorhandenen Datenreihen ausgewertet. Über 200 Gämsen wurden gefangen und individuell mit Sichtmarkierungen ausgestattet. Damit wurden der Fortpflanzungserfolg der Geißen und die Überlebenswahrscheinlichkeit ermittelt. Für die Untersuchung der Raumnutzung und der Aktivitätsmuster kommen zusätzlich 40 GPS-Sender zum Einsatz. Huftierforschung ist Langzeitforschung; das Projekt läuft seit 25 Jahren.
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